Hanna Rutishauser erwandert Istanbul
1996 ist die Autorin Hanna Rutishauser nach Istanbul gezogen: "Weil ich eine neue Sprache lernen wollte." Türkisch spricht sie inzwischen perfekt, doch dass man sie nach all den Jahren immer noch als Touristin behandelt, ärgert sie.
«Ich arbeite an einer Ausstellung über den Alltag von Ausländern in der Türkei. Darüber ist wenig bekannt», erzählt die Schweizer Autorin und Sprachwissenschafterin in Istanbul, wo sie seit 12 Jahren lebt. «Als ich hier neu war, interessierte mich so etwas nicht, ich wollte das Land, seine Sprache und Menschen kennenlernen.»
Als Treffpunkt hat Hanna Rutishauser ein Café bei der Endstation des Busses nach Kirazlitepe auf der asiatischen Seite Istanbuls vorgeschlagen. Anschliessend will sie dort den Muhtar, den Dorfvorsteher, treffen, um sich von ihm über die neusten Entwicklungen im Quartier informieren zu lassen.
Die zierliche Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur ist zu Fuss in der Mittagshitze von ihrem Quartier Kuzguncuk eine gute Stunde über die Hügel nach Kirazlitepe gewandert, in bequemen Schuhen, und den Rucksack geschultert. «Ich bin eine Bewegungsfanatikerin. Das kommt mir hier beim Erkunden der Stadt entgegen», sagt sie.
Eine andere Leidenschaft der gebürtigen Zürcherin ist die Sprache. Studiert hatte sie Französisch und Italienisch. Auf das Türkische kam sie 1990 zum ersten Mal, als sie in Paris einen Türken kennenlernte, der kein Französisch sprach. Zurück in Zürich, schloss sie sich dann einer privaten Lerngruppe an.
«Ich bin wegen der Sprache in die Türkei gekommen», erklärt sie ihre neue Wahlheimat. Und die habe ihr manche Tür geöffnet.
Erste Schritte in der Fremde
Hanna Rutishauser lacht, wenn sie sich an die Schwierigkeiten bei ihren ersten Entdeckungsreisen durch die Stadt erinnert. In Üsküdar, dem Stadtbezirk auf der asiatischen Seite, sei sie einmal in einen Bus eingestiegen und endlos lange gefahren. Alle Leute hätten sie angestarrt.
«Der Bus hielt schliesslich auf einem Hügel inmitten einer Gecekondu-Siedlung (über Nacht illegal hingebaute Häuser von Einwanderern), der Chauffeur drehte sich zu mir um und sagte: ‹Endstation›. Ich stieg aus und sah, wie ein Mädchen vor mir davonrannte. Dann setzte ich mich auf eine Bank und wartete, bis der Bus wieder zurückfuhr. Ich getraute mich damals nicht, herumzugehen und mich umzusehen.»
Doch das Erlebnis spornte sie an. Jahre später fuhr sie wieder in dasselbe Quartier, Kazim Karabekir. Dort liess sie sich von Frauen, die dort vor ihren Häusern Glasperlen und Pailletten auf weisse Trikothemden nähten, ihr Leben erzählen.
Daraus entstand schliesslich die Reportage über Migrantinnen und Migranten in Gecekondus, die 2003 in der Kulturzeitschrift DU über Istanbul erschien: «Wer ein Haus hat, überlebt». Für Hanna Rutishauser ist dieses Erlebnis eine kleine Erfolgsgeschichte.
Lieber Fussball als Politik
An ihren Reportagen arbeitet die Autorin oft monatelang. Kurzfristige Aufträge auf Termin macht sie keine. «Ausser über Fussball. Die NZZ hat mich als Fussball-Expertin entdeckt», witzelt sie. Allerdings gehe es bei diesen Berichten um das Umfeld und die Stimmung im Stadion, nicht um das Spiel selbst.
Politische Themen klammert sie aus, nicht zuletzt, um Probleme zu vermeiden. «Der türkische Staat ist gegenüber allen, die nicht der türkischen Ethnie angehören, misstrauisch. Neben Kurden und Arabern betrifft dies auch Ausländer aus dem Westen.»
Nicht die politische Analyse, sondern die sozialkritische, stadtethnologische Annäherung reizen Rutishauser. Durch persönliche Begegnungen auf Busfahrten und Wanderungen kommt sie dem Land und seinen Leuten näher.
«Eines Tages beschloss ich, meine Stadterkundungen nicht mehr allein zu machen. Jetzt organisiere ich Stadtwanderungen für vorwiegend türkische Freunde und Bekannte, die wie ich gerne zu Fuss gehen, die hier leben, aber ihre Stadt besser kennenlernen möchten.»
Geld verdient sie damit keines. Für Touristenführer ist die türkische Staatsbürgerschaft Bedingung. «Sie müssen schliesslich die Türkei vertreten», habe man ihr gesagt.
Woher kommst du?
Nach jeder Wanderung verfasst Hanna Rutishauser einen Bericht, den sie per Mail an ihre Wander-Gruppe verschickt. «Anfangs war das jeweils eine Seite, inzwischen werden die Berichte immer länger. Vielleicht wird daraus einmal ein Buch», sinniert sie.
Rutishausers Interesse für die Gecekondus und ihre Bewohner ist nicht zufällig. Die Einwanderung aus Anatolien hält seit den 1950er Jahren unvermindert an. Von den gut 15 Millionen Einwohnern Istanbuls sind weniger als zehn Prozent Einheimische.
Oft ärgert sich die 58-jährige Schweizerin, die perfekt Türkisch spricht und doch als Fremde wahrgenommen wird, über immer wieder gestellte Fragen wie ‹woher kommst du? wie lange bist du schon da?›. Aber sie versteht: «Die Türken fragen sich das auch untereinander. Es ist ja niemand aus Istanbul. Alle kommen von irgendwo her.»
swissinfo, Susanne Schanda, Istanbul
2007 lebten 2111 Schweizerinnen und Schweizer in der Türkei.
2006 waren es noch 1880.
Insgesamt leben 668’000 Schweizerinnen und Schweizer im Ausland.
Rund 100’000 Türkinnen und Türken leben in der Schweiz.
1925 schlossen die Schweiz und die Türkei einen Freundschaftsvertrag.
Bei der Reform des türkischen Zivil- und Eherechts 1926 wurde das schweizerische Zivilgesetzbuch nahezu unverändert ins türkische Recht übernommen.
Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner und Markt für die Schweiz. Rund 320 Schweizer Firmen sind dort tätig. Die Schweiz ist der sechstgrösste Investor in der Türkei.
Seit einigen Jahren trübt die Frage des von der Türkei geleugneten Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei.
Nachdem das Waadtländer Parlament offiziell von Völkermord an den Armeniern gesprochen hatte, wurde 2003 ein Türkei-Besuch der Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey von Ankara abgesagt.
2005 wurde der damalige Schweizer Wirtschaftsminister Joseph Deiss von der Türkei wieder ausgeladen, als die Schweizer Justizbehörden Ermittlungen gegen den Genozidleugner Dogu Perincek aufnahmen.
Das Verhältnis hat sich dieses Jahr entspannt. Seit Mai 2008 finden zwischen der Türkei und Armenien Gespräche unter Schweizer Vermittlung statt.
Für November 2008 sind Besuche von zwei Bundesräten in der Türkei vorgesehen.
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