«Ich wüsste keinen anderen Beruf»
Immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte streben eine Hausarztkarriere an. In den nächsten Jahren könnte die Situation dramatische Ausmasse annehmen. swissinfo.ch macht sich ein Bild bei einem Hausarzt.
Doktor Bruno Kisslings Praxis befindet sich in einem unauffälligen Mehrfamilienhaus im Berner Elfenauquartier. Seit bald 30 Jahren wirkt er hier als Hausarzt. Wird es nicht langsam Zeit, an die Pensionierung zu denken?
«Ich bin jetzt im 62. Lebensjahr, gehöre zur grossen Gruppe der Ärzte von 55 und mehr Jahren. Ich habe immer noch grosse Arbeitslust und kann mir nicht vorstellen, mit 65 meine Arbeit niederzulegen. Meinen Zeithorizont zum Rückzug aus dem Berufsleben habe ich auf 68 Jahre angesetzt. Ich denke, irgendwann verliert man dann doch die Kraft, nicht die Lust», so Bruno Kissling.
Hält der gegenwärtige Pensionierungstrend unter seinen Kolleginnen und Kollegen an, gehen 2016 die Hälfte der heute praktizierenden Hausärzte und –ärztinnen in Pension, bis 2021 werden es gar 75% sein. Und genügend Nachwuchs ist nicht in Sicht. Nur rund 10% der Medizin Studierenden streben eine Berufslaufbahn als Hausarzt an.
Um auf dieses Problem aufmerksam zu machen, hat Hausärzte Schweiz, der Berufsverband der Haus- und Kinderärztinnen, auf dem Bundesplatz in Bern eine Öffentlichkeitskampagne gestartet zur Unterstützung der Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin».
Nachfolgestrategie
Der drohende Hausarztmangel beschäftigt auch Bruno Kissling: «Ich habe noch keine Nachfolgeregelung vorgesehen, aber eine Nachfolgestrategie.» Er denkt deshalb daran, die Praxen jener Kollegen, die das möchten, zusammenzulegen. «So könnten wir die Strukturen ausweiten und junge Ärztinnen und Ärzte, die auch Teilzeit arbeiten möchten, aufnehmen.»
Seine Nachfolgestrategie befindet sich noch in den Anfängen. «Es gibt auch Hindernisse, denn in meinem Alter sollte man nicht mehr in ein Geschäft investieren, das man nicht mehr lange pflegen kann.»
Trotzdem ist er der Ansicht, dass die alten Hausärzte sich engagieren sollten, denn für die Jungen sei es schwierig, eine Gruppenpraxis aus dem Nichts aufzubauen. «Es ist auch an uns, bei der nötigen Strukturerneuerung mitzuhelfen.»
Menschliche Beziehungen
Würde er als Medizinstudent heute wieder Hausarzt werden wollen? «Ja. Ich wüsste keinen anderen Beruf, den ich sonst ausüben möchte. Das ist so seit meiner Kindheit.»
Wichtig für ihn seien die zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich beim Hausarztberuf über eine lange Zeit hinziehen. Beim Spezialisten seien es eher punktuelle Berührungen mit dem Patienten. «Aber dass man Menschen 10, 20 Jahre durch ihr Leben begleitet, gibt es eigentlich nur in der Hausarztmedizin», ist Kissling überzeugt.
Er schätzt die Kommunikation, das Gespräch mit den Patienten, Lösungen zu suchen, nicht einfach Medizin anzuwenden, nicht einfach Krankheiten diagnosebezogen zu behandeln, «sondern den Menschen mit seinen Krankheiten und seinem Krankheitsempfinden.»
«Postkeule»
Hausarzt ist ein anspruchsvoller und strenger Beruf. Bei Kissling sind 12-Stunden-Arbeitstage – nonstop – die Regel. Das stört ihn nicht: «Ich bin ein psychologischer Marathonläufer, ich kann das problemlos durchstehen.»
Während die meisten Menschen ihre Mittagszeit vor einem Menü geniessen, setzt er sich vor einen Stoss Papier. «Ich nenne das die Postkeule. Es sind Briefe, Zeugnisse, die man ausfüllen muss, Berichte von und an Spezialisten.»
Mühe machen ihm vor allem Anfragen von Versicherungen, weshalb ein Patient ein bestimmtes Medikament brauche, warum er eine Physiotherapie verschrieben habe.
Für die Patienten, die Spitex-Unterstützung brauchen, werde ihm eine Betreuungsstundenzahl vorgelegt. «Da muss ich unterschreiben, obwohl ich selber kaum beurteilen kann, wie viele Stunden nötig sind.»
Dasselbe gelte für Formulare aus dem Altersheim und Zeugnisse, die er nicht beeinflussen könne, «für die ich nur meine Unterschrift geben muss. Und trotzdem trage ich Verantwortung dafür», ärgert er sich.
Hausbesuche – bis zum Ende des Lebens
Hat Kissling seine «Postkeule» erledigt, sind die Hausbesuche dran. «In letzter Zeit finden die meisten in zirka zehn verschiedenen Altersheimen statt», sagt Kissling. «Ich könnte ja sagen, wenn sie im Altersheim sind, müsste ich sie dem betreffenden Heimarzt übergeben. Aber eine Langzeitbeziehung beinhaltet, bis zum Ende des Lebens mitzugehen.»
Der Hausarzt sieht sich regelmässig mit dem Tod konfrontiert: «In aller Regel finden wir einen guten Weg, damit die Leute friedlich einschlafen können. Wenn der Betroffene nicht leidet und in die Sterbe-Situation hineinwachsen kann, belastet mich das nicht nachhaltig. Es ist herausfordernd und irgendwie auch schön, Menschen auf diesem Weg zu begleiten.»
Was ist uns die Gesundheit wert?
Kissling ist nicht der Ansicht, dass die Hausärzte für die weiterhin stark ansteigenden Gesundheitskosten verantwortlich seien. «Es sind vor allem die Spitalkosten.»
Er kritisiert: «Unsere Gesellschaft hat momentan noch nicht reflektiert, bis wohin die Medizin gehen soll. Heute kann man immer noch eine zusätzliche Therapie anbieten, und noch etwas, und landet am Schluss in Versuchsbereichen, wo die erwiesene Wissenschaft vielleicht bereits aufgehört hat, wo die Forschung beginnt. Und das kostet sehr viel Geld. Wollen wir das?»
Die Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte befürchten einen Hausarztmangel, da in den nächsten Jahren sehr viele Hausärztepensioniert werden und nur wenige Medizin Studierende den Hausarztberuf ergreifen wollen.
Sie starten deshalb die Kampagne «Mein Hausarzt und ich – gemeinsam gewinnen». Herzstück ist ein speziell umgebauter Bus, der bis zur Abstimmung durch die Schweiz touren wird.
Im April beginnt die Vernehmlassung des Gegenentwurfs des Bundesrates zur 2010 eingereichten Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin».
2010 waren in der Schweiz 30’273 berufstätige Ärztinnen und Ärzte gemeldet (10’843 Frauen/19’430 Männer).
63,1% (8553) der Ärztinnen und Ärzte arbeiteten im ambulanten Sektor in einer Einzelpraxis. 36,9% (4997) arbeiteten in einer Doppel- oder Gruppenpraxis.
Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Sektor: 53 Jahre (Frauen 50 Jahre).
Rund 74% der Ärzteschaft im ambulanten Sektor beteiligt sich am Notfalldienst.
66% der Ärztinnen und Ärzte behandeln Patienten auch ausserhalbihrer Praxis (Heime und Hausbesuche)
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