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Integration geht durch den Magen

Die Uliatt-Küche, ein kleines gastronomisches Juwel und ein Integrationslabor. swissinfo.ch

Im Restaurant Uliatt in Chiasso verbindet sich die Integration von Behinderten mit guten Speisen und Solidarität. Das von der Stiftung Diamante lancierte Projekt hat der Region auch geholfen, Fragmente der eigenen Vergangenheit zu integrieren.

«In den dreissiger bis fünfziger Jahren wurde in solchen Lokalen Leinsamen-, Walnuss- und Sonnenblumenöl produziert», sagt der Koch Paolo gegenüber swissinfo.ch. «Die Leinsamen wurden in Päckchen abgefüllt und in Apotheken verkauft. Es war eine wichtige Tätigkeit für die Stadt Chiasso, ein Stück Geschichte und Kultur, das in Vergessenheit zu geraten drohte.»

Heute ist die Erinnerung an «Uliatt» (ein Tessiner Dialektbegriff für die Ölproduktion) dank der Diamante-Stiftung wieder zurückgekehrt. Sie hat das zerfallene Bauwerk in eine Osteria verwandelt. Eine Geste der Solidarität gegenüber der Grenzstadt und ihren Einwohnern, besonders aber gegenüber jenen, die in dieser sozialen Einrichtung arbeiten können.

Uliatt ist kein Gasthaus wie jedes andere. Es ist ein gastronomisches Kleinod und ein Integrationslabor für Menschen mit Behinderungen. Ohne Reservierung bekommt niemand einen Tisch. Der fabelhafte Ruf von Koch Paolo, die Freundlichkeit der Kellner und die für jedermann erschwinglichen Preise haben das Projekt zum Erfolg geführt.

Uliatt, 2008 eröffnet, ist eines von zwölf Arbeitszentren der Stiftung Diamante, die sich seit 1978 um die soziale Eingliederung und Beschäftigung von Personen mit psychischen und physischen Erkrankungen sowie Langzeitarbeitslosen kümmert.

Die Vielfalt lesen und interpretieren

Es ist kurz vor Mittag, die Tische sind gedeckt, die Sonnenschirme offen und die Sitzkissen auf die Stühle verteilt. «Heute haben wir hausgemachte Lasagne oder Pilzrisotto mit Radicchio und Rotwein», erklärt Marco breit lächelnd. «Und es gibt auch ein leckeres Dessert», fügt Rosanna gut gelaunt dazu.

Rosanna und Marco arbeiten hier als Bedienung und «Mädchen für Alles». Sie hat das Down-Syndrom, er hat einen schwierigen Weg von abgebrochenen Ausbildungen und Langzeitarbeitslosigkeit hinter sich.

Marco erzählt: «Ich kam vor ein paar Jahren zur Stiftung Diamante. Ich war glücklich, endlich arbeiten zu können und hatte das Gefühl, nützlich zu sein. Gleichzeitig aber fragte ich mich auch, was ich falsch gemacht hatte und weshalb ich anders als die anderen sei. Ich bin überzeugt, dass mir die Anstellung bei der Stiftung Diamante neue berufliche Möglichkeiten öffnet. Dies erlaubt mir auch, mich persönlich weiter zu entwickeln – etwas, was ich während meiner Arbeitslosigkeit nicht konnte.»

Im Uliatt arbeiten rund ein Dutzend Menschen, darunter Lehrer, Köche, Kellnerinnen und Kellner. «Ziel der Diamante-Stiftung ist die Schaffung einer funktionierenden Struktur, welche die bestmögliche Nutzung der Fähigkeiten von sonst ausgegrenzten, behinderten oder gebrechlichen Menschen ermöglicht «, sagt die Direktorin Maria-Luisa Polli. «Wie bei jedem Erwachsenen ist die Arbeit ein Instrument zur Entwicklung und Sozialisation. Ausserdem strukturiert sie den Alltag und das Leben.»

Dank ihrer zahlreichen Einrichtungen – Töpfereien, Holzbearbeitungsbetriebe, Gartenarbeits-Services und Restauration – bietet die Stiftung Diamant jenen eine professionelle Alternative, die den Anforderungen an den strengen, wettbewerbsorientierten Markt nicht gewachsen sind.

Von vorne begonnen

In den Projekten der Stiftung Diamante ist Integration nicht einfach Selbstzweck. Die Qualität der Dienstleistung ist eine fundamentale Bedingung. Die Institution will ein neues Element zwischen Staat und Markt einfügen, das die öffentliche Anerkennung ihrer Arbeit ermöglicht.

Es ist kein Zufall, dass Paolo, der Küchenchef des Uliatt, 16 Jahre in einem der renommiertesten Restaurants des Tessins gearbeitet hat. «Dann verspürte ich das Bedürfnis, mich selbständig zu machen. Ich gab meine Sicherheit auf und stürzte mich in dieses Abenteuer. Die Latte erwies sich jedoch als zu hoch – ich habe es nicht geschafft.»

Es war, als ob die Welt zusammenbrechen würde: «Ich konnte nicht mehr in einer Küche arbeiten. Nur schon der Gedanke, ich müsste in einer ‹privaten› Küche wirken, verursachte Panik in mir. Dann habe ich als Hilfskoch im Canvetto Luganese (dem anderen Restaurant der Stiftung Diamante) zu arbeiten begonnen. Nun habe ich wieder mehr Selbstvertrauen, aber ich musste bei Null beginnen.»

Nun ist Paolo für alle gastronomischen Bereiche des Uliatt verantwortlich: Er kauft die Waren von den regionalen Erzeugern, bereitet die Menüs zu und koordiniert die Arbeit in seinem kleinen Mitarbeiterstab. «Im Gegensatz zu meiner schlimmsten Zeit kenne ich heute meine Grenzen und weiss, wie weit ich gehen kann. Beim Gedanken, wieder in der Privatwirtschaft zu arbeiten, fühle ich mich nicht wohl. Zwar ist die Belastung auch hier hoch, aber wir sind trotzdem geschützt. Endlich bin ich in der Lage mir und den anderen etwas zu geben – das ist mir vorher nicht gelungen.»

Erinnerungen

In den drei Jahren seines Bestehens hat sich das Uliatt einerseits zu einer Anlaufstelle für Gastronomieliebhaber entwickelt. Andererseits ist es auch zu einem Quartiertreffpunkt geworden. «Zu unseren Stammgäste gehören Rentner, die den Morgen hier mit Kaffee trinken verbringen, Lehrer, die über den Mittag hierher kommen, sowie Gruppen, die Geburtstage oder andere kleine Feste veranstalten», erklärt Paolo.

Das Uliatt mit seinen Angeboten steht der ganzen Bevölkerung von Chiasso offen. Beliebt ist die renovierte alte Ölmühle auch wegen ihrer Räumlichkeiten. Sie ist für die gesamte Region ein Fragment der Vergangenheit, das den Integrations- und Akzeptanzprozess fördert.

Die Stiftung Diamante betrachtet es als ihre Aufgabe, die peripheren Standorte nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Sie will damit einer sozialen Verschlechterung und Verarmung dieser Gebiete entgegenwirken.

Die 1978 gegründete Fondazione (Stiftung) Diamante betreibt 16 Projekte im ganzen Kanton Tessin: 12 Werkstätte und vier betreute Wohn-Gemeinschaften. Ferner betreibt die Stiftung einen Hausbetreuungsdienst.

Rund 190 Sozialarbeiter und -arbeiterinnen betreuen über 500 Invaliden-Versicherungs (IV)-Bezügerinnen und -Bezüger. Bei diesen handelt es sich vorwiegend um geistig und psychisch Behinderte.

Die jährlichen Kosten der Fondazione Diamante für diese Projekte belaufen sich auf 19 Millionen Franken, wovon 12 Mio. durch Subventionen des Kantons Tessin beglichen werden. Die restlichen 7 Mio. werden von der Stiftung selber gedeckt. 60% dieser 7 Mio. sind Mittel aus der Produktion von Gütern und Dienstleistungen.

Im Rahmen ihrer Sparmassnahmen hat die Schweizer Regierung in diesem Frühjahr eine Finanzierungsbeschränkung bei der beruflichen Grundausbildung für junge IV-Bezüger und -Bezügerinnen vorgeschlagen.

Der Staat wird künftig nur noch jene jungen IV-Bezüger unterstützen, die fähig sind, ein bestimmtes Einkommen zu generieren.

Gemäss Vereinigungen, welche sich für die Rechte von Behinderten einsetzen, würden zwei Drittel der gegenwärtigen Lehrlinge diese Bedingungen nicht erfüllen und damit in einer Sackgasse enden.

Deshalb wurde im vergangenen Mai die Petition «Schule für alle» lanciert, die von über 100’000 Personen unterzeichnet worden ist.

(Übertragung und Adaption aus dem Italienischen: Etienne Strebel)

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