«Um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, braucht es Ressourcen»
In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Person, meist eine Frau, durch häusliche Gewalt getötet. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention sollte helfen, Gewalt gegen Frauen wirksamer zu bekämpfen. Die Schweiz habe hier noch viel zu tun, sagen Nichtregierungsorganisationen.
Im vergangenen Jahr schlugen die Hashtags #MeTooExterner Link oder #BalanceTonPorcExterner Link ein wie Blitze. Sie machten das Ausmass des Problems deutlich. Denn Gewalt gegen Frauen ist kein neues Phänomen, sondern eine der am weitesten verbreiteten Menschenrechtsverletzungen, wie die UNO anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen vom 25. November in Erinnerung ruft.
Nichtregierungsorganisationen, die gegen dieses Leid kämpfen, setzen ihre Hoffnung auf das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-KonventionExterner Link, abgeschlossen am 11. Mai 2011 in Istanbul). Es trat im April letzten Jahres in der Schweiz in Kraft. Simone Eggler vom Netzwerk der Zivilgesellschaft zur Umsetzung des Istanbuler Übereinkommens sagt, Bund und Kantone müssten aber erst noch die nötigen Mittel sprechen, damit der Text Früchte tragen könne.
swissinfo.ch: Welche Formen von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen gibt es in der Schweiz?
Simone Eggler: Die Gewalt kann physisch, psychisch, sozial oder wirtschaftlich sein und zu Hause oder im öffentlichen Raum stattfinden. Einerseits ist es manchmal schwierig, zwischen diesen verschiedenen Formen zu unterscheiden. Andererseits gibt es statistische Lücken. Zwar gibt es viele Zahlen über häusliche Gewalt. Doch Gewalt gegen Frauen wird nicht als solche registriert. Eine unserer Forderungen, die auch im Rahmen der Istanbul-Konvention erhoben wird, ist die Verbesserung der Datenerfassung und -genauigkeit. Ohne dies können wir die Situation nicht überwachen und die Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen nicht bewerten. Die Datenerfassung ist die Grundlage für alles.
swissinfo.ch: Inwieweit wird die Umsetzung der Istanbuler-Konvention den Kampf gegen Gewalt verbessern?
S.E.: Der Text verlangt von der Schweiz, dass sie sehr spezifische Verpflichtungen erfüllt. Es ist wichtig, dass er von A bis Z umgesetzt wird, denn es gibt viele Lücken. Zum Beispiel haben wir viele Unterstützungsstrukturen, aber sie sind nicht für jeden zugänglich. Insbesondere Flüchtlinge, die während ihrer Flucht Opfer von Gewalt geworden sind oder Personen, die zum Zeitpunkt des Vorfalls nicht im Land ansässig waren, haben keinen Anspruch auf Opferhilfe in der Schweiz. Das ist ein schwerwiegender Gesetzesmangel.
Wir haben auch immer noch das Problem der Frauen, die hier wegen einer Ehe ein Aufenthaltsrecht haben. Im Falle einer Gewaltsituation wollen sie sich nicht von ihren Männern trennen, um dieses Recht nicht zu verlieren. Einige Kantone sehen besondere Massnahmen vor, um ihnen den Aufenthalt zu ermöglichen, aber leider nicht alle. Die Umsetzung des Übereinkommens sollte es ermöglichen, diese Lücken zu schliessen.
«Nein, es gibt kein typisches Profil des Opfers oder des Täters.»
Simone Eggler
swissinfo.ch: Welche zusätzlichen Instrumente brauchen Nichtregierungsorganisationen, um ihre Arbeit zu verbessern?
S.E.: Gemäss der Istanbul-Konvention muss die Schweiz eine professionelle Telefon-Helpline einrichten, die auf häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen spezialisiert ist und 24 Stunden am Tag bedient wird. Zu bestimmten Zeiten besteht im Moment einzig die Möglichkeit, die Polizei zu kontaktieren. Manchmal ist das notwendig, aber manchmal ist es eine zu grosse Hürde für die Opfer. In gewissen Fällen ist es auch nicht die beste Lösung. Es muss ein Qualitätssystem eingerichtet werden, um eine Hilfe zu leisten, die jederzeit für alle zugänglich ist.
swissinfo.ch: Zu Ihren Forderungen gehört auch die Verbesserung der Arbeit mit Gewalttätern. Gibt es ein typisches Profil von Menschen mit erhöhtem Risiko, solche Handlungen zu begehen?
S.E.: Nein, es gibt kein typisches Profil des Opfers oder des Täters. Gewalt findet sich in allen sozialen Schichten. Deshalb müssen Unterstützungsangebote für alle und ohne Diskriminierung zugänglich sein. In der Schweiz gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Kantonen, die nicht immer über die gleichen Ressourcen verfügen. Dies muss harmonisiert werden, um allen die gleichen Möglichkeiten zu geben, sei es in Bezug auf Prävention, Schutz oder Arbeit mit den Tätern.
Schweizer Nichtregierungsorganisationen erklären die Istanbuler-Konvention:
swissinfo.ch: Hat die #MeToo-Bewegung, die 2017 im Internet gestartet wurde, um sexuelle Übergriffe und Gewalt anzuprangern, einen günstigen Rahmen für eine wirksamere Bekämpfung von Gewalt geschaffen?
S.E.: Wir stellen fest, dass ein grösseres Bewusstsein dafür besteht, was Gewalt ist, auch seitens der betroffenen Menschen. Das Thema ist nun stärker in den Medien präsent. Es ist jedoch wichtig, sich nicht für voreilige und emotionale Lösungen zu entscheiden, sondern für langfristige Lösungen. Wir hören oft: «Wir müssen die Täter nur zu härteren Strafen verurteilen.» Aber nur auf krimineller Ebene zu handeln, löst nichts, wir müssen auch in die Verbesserung der Hilfsstrukturen und in die Erforschung des Problems investieren. Das ist jedoch teuer. Aber wenn wir die Gewalt gegen Frauen bekämpfen wollen, müssen wir Geld investieren, sonst werden wir das Problem nur vertuschen.
«Die extremste Form der Diskriminierung»
Die UNOExterner Link definiert Gewalt gegen Frauen als «die extremste Form der Diskriminierung». Laut Daten aus 87 Ländern von 2005 bis 2016 gaben 19% der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren an, in den letzten zwölf Monaten vor der Umfrage körperliche oder sexuelle Gewalt von einem engen Partner erlebt zu haben. Im Extremfall kann diese Gewalt zum Tode führen. Im Jahr 2012 wurde fast die Hälfte aller weiblichen Opfer von vorsätzlichen Tötungen weltweit von einem engen Partner oder Familienmitglied getötet, verglichen mit 6% der Männer.
Weibliche Genitalverstümmelung ist ein weiterer Fall von extremer Gewalt. In einigen der 30 Länder mit repräsentativen Daten zu diesem Thema ist die Prävalenz nach wie vor hoch.
Nur etwas mehr als die Hälfte (52%) der 15- bis 49-jährigen Frauen, die verheiratet sind oder im Konkubinat leben, treffen ihre eigenen Entscheidungen zu Sexualität, Verhütungsmethoden und Gesundheitsdienste. (Quelle: UNOExterner Link)
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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