Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Bern entscheidet über Kürzung der Sozialhilfe

Mehrere hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer protestieren an der Demonstration "Stopp dem Sozialabbau" gegen die angekündigten Verschärfungen des Sozialhilfegesetzes im Kanton Bern, am Dienstag, 6. Juni 2017. © Keystone / Thomas Delley

Sollen die Sozialhilfeleistungen, das letzte Sicherheitsnetz des schweizerischen Sozialversicherungssystems, gekürzt oder erhöht werden? Erstmals wird die Bevölkerung bei diesem politisch heiklen Thema ein Mitspracherecht haben. Die Abstimmung vom 19. Mai im Kanton Bern ist ein Test für die übrige Schweiz.

Missbrauchs- und Betrugsfälle, steigende Zahl von Sozialhilfebezügern in einigen Städten des Landes, zu hohe Auszahlungen an bestimmte Bevölkerungsgruppen: Die Sozialhilfe ist in der Schweiz seit vielen Jahren Gegenstand heftiger Diskussionen. Bisher beschränkte sich die politische Diskussion in der Regel auf die Parlamente der 26 Schweizer Kantone, die über die Kompetenz verfügen, in diesem Bereich Gesetze zu erlassen.

Die Sozialhilfe in der Schweiz

  • Die Sozialhilfe muss es Menschen in Not ermöglichen, ein menschenwürdiges und eigenständiges Leben zu führen und soll ihre soziale Integration fördern.
  • Um Anspruch auf Sozialhilfe zu haben, muss man alle anderen Ressourcen ausgeschöpft haben: Einkommen, Vermögen, Versicherungsleistungen und Unterhaltsbeiträge.
  • In den meisten Kantonen muss die erhaltene Sozialhilfe zurückgezahlt werden, insbesondere wenn sich die wirtschaftliche Situation der betroffenen Person verbessert hat.
  • Die Kosten der Sozialhilfe werden in der Regel vom Kanton und der Wohngemeinde getragen.
  • Die Quote der Sozialhilfebezüger ist in den letzten zehn Jahren in der Schweiz relativ stabil geblieben (3,3% im Jahr 2017). 

In weniger als zwei Wochen werden die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen des Kantons Bern als Erste in der Schweiz zu einem heissen Eisen Stellung nehmen können, nämlich zur Höhe des Grundbedarfs, der die grundlegenden Bedürfnisse der Bezüger decken soll.

Zwei Vorlagen kommen zur Abstimmung: Eine Revision des Sozialhilfegesetzes, die eine Kürzung des Grundbedarfs gemäss Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOSExterner Link) um 8% vorsieht. Für junge Erwachsene bis 25 Jahre sowie für vorläufig aufgenommene Asylbewerber soll die Kürzung bis zu 15% betragen. Und wer sich bei der Arbeitssuche oder dem Lernen einer Amtssprache nicht genügend anstrengt, dem könnte der Grundbedarf um bis zu 30% reduziert werden.

Externer Inhalt

Links und rechts prallen aufeinander

Der zuständige Berner Gesundheits- und Fürsorgedirektor von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), Pierre Alain SchneggExterner Link, hatte den Vorschlag eingebracht, der von einer Mehrheit des Berner Parlaments vergangenes Jahr befürwortet wurde. «Es ist nicht normal, dass eine Person mit niedrigem Einkommen am Ende des Monats weniger Geld hat als ein Sozialhilfeempfänger. Mit dieser Reform wollen wir die Arbeit attraktiver machen und die berufliche Integration von Menschen in der Sozialhilfe fördern», argumentiert Schnegg. Durch die Massnahme werden jährlich zwischen 8 und 19 Millionen Franken eingespart, von denen ein Teil für Projekte zur beruflichen Integration verwendet wird.


«Wir werden das Problem der Niedriglöhne in der Schweiz nicht durch einen Angriff auf die Schwächsten lösen können»
Maurane Riesen, Autonome sozialistische Partei Bern

Als Reaktion darauf lancierten linke Kreise einen «VolksvorschlagExterner Link«, eine Art Referendum mit mehr als 16’000 Unterschriften, in dem die Ausrichtung der Sozialhilfe nach den SKOS-Richtlinien gefordert wird. Zudem sollen über 55-jährige ausgesteuerte Arbeitslose statt Sozialhilfe Ergänzungsleistungen wie bei einer AHV- oder IV-Rente bekommen.

«Wir werden das Problem der Niedriglöhne in der Schweiz nicht durch einen Angriff auf die Schwächsten lösen können», sagt Maurane RiesenExterner Link, Abgeordnete der autonomen sozialistischen Partei im Berner Parlament. «Heute sprechen wir nur noch von Missbrauch und Betrug, um eine traurige Realität zu verbergen, nämlich dass sich die sozialen Ungleichheiten in unserem Land ständig vergrössern.»

Interkantonale Solidarität

Pierre Alain Schnegg, Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern, verteidigt die Kürzung der Sozialhilfe. Keystone / Lukas Lehmann

An der Abstimmung vom Sonntag geht es aber um mehr als eine klassische Rechts-Links-Auseinandersetzung über Solidarität versus individuelle Verantwortung. Es geht auch um die Zukunft der Harmonisierungspolitik im Bereich der Sozialhilfe in der Schweiz.

Seit den 1960er-JahrenExterner Link publiziert die Armenpflegerkonferenz (heutige SKOS) Richtlinien mit Empfehlungen für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe zuhanden kantonaler und kommunaler Behörden. Ziel ist insbesondere, zu grosse Unterschiede zwischen den Gemeinden zu verhindern, damit es keinen «Sozialtourismus» in grosszügige Gemeinden und Kantone gibt.

Indem die Berner Behörden sich direkt gegen diese unverbindlichen Richtlinien wenden, brechen sie nun ein Tabu. «Bereits in mehreren Kantonen sind parlamentarische Vorstösse zur Senkung der Sozialhilfe nach bernischem Vorbild eingereicht worden», sagt Corinne Hutmacher-Perret, Leiterin Fachbereich Grundlagen, Recht und Beratung bei der SKOS.

Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

Nach Ansicht der SKOS gibt es heute keinen Grund, die Höhe des Grundbedarfs für Sozialhilfeempfänger in Frage zu stellen, zumal in den letzten Jahren bereits Korrekturen nach unten für junge Erwachsene und Grossfamilien vorgenommen wurden.

«Wir passen bloss die Empfehlungen an die Realität unseres Kantons an. Das ist das Wesen des Schweizer Föderalismus.»
Pierre Alain Schnegg, Fürsorgedirektor des Kantons Bern

Verschiedene Studien zeigen auch, dass eine solche Kürzung die Integration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt wahrscheinlich nicht fördern wird. Im Gegenteil. «Ein erhöhter wirtschaftlicher Druck wirkt sich oft negativ auf die psychische Gesundheit der Menschen aus und treibt sie noch weiter in die Unsicherheit. Ausserdem darf nicht vergessen werden, dass ein Drittel der Sozialhilfeempfänger Kinder und Jugendliche sind», betont Hutmacher-Perret.

Die SKOS-Richtlinien sind ein Konsens, auf welche sich die betroffenen Akteure im Rahmen von jahrelangen Diskussionen geeinigt haben. Ist es da nicht ärgerlich, wenn der Kanton Bern nun ausschert? «Andere Kantone haben sich bei den SKOS-Richtlinien ebenfalls Freiheiten rausgenommen, ohne dass dies Emotionen geweckt hätte», erwidert Schnegg. «Zudem betragen die durchschnittlichen Ausgaben eines Berner Haushalts 8% weniger als die eines durchschnittlichen Schweizer Haushalts, so dass wir bloss die Empfehlungen an die Realität unseres Kantons anpassen. Das ist das Wesen des Schweizer Föderalismus.»

Wie wird der Grundbedarf berechnet?

Die Sozialhilfe deckt nicht nur Miete und obligatorische Krankenversicherung, sondern zahlt auch einen festen Grundbetrag zur Deckung des Existenzminimums (Nahrung, Kleidung, Mobilität, laufende Haushaltsführung usw.).

Die Berechnung basiert auf dem vom Bundesamt für Statistik ermittelten Verbrauch der ärmsten 10% der Haushalte. Derzeit beträgt der Grundbedarf 986 Franken für eine Einzelperson und 2110 Franken für eine vierköpfige Familie. Laut einer zu Beginn des Jahres veröffentlichten Studie ist diese Pauschale heute schon sehr knapp bemessenExterner Link.

Kontaktieren Sie den Autor dieses Artikels auf Twitter: @samueljabergExterner Link

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft