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Kein Eingriff in Privatsphäre zwecks Unterhaltung

Jörg Kachelmann beim Verlassen der Justizvollzugsanstalt Mannheim Ende Juli. Keystone

Die Verhandlung gegen den Schweizer Wettermoderator Jörg Kachelmann, der wegen Vergewaltigung angeklagt ist, hat noch nicht begonnen. In den Medien aber ist der "Prozess" bereits voll im Gang. Medienrechtler Peter Studer fordert mehr Zurückhaltung und Respekt.

Über vier Monate sass er in Untersuchungshaft, Ende Juli kam er frei. Am 6. September beginnt am Landgericht in Mannheim der Prozess gegen den TV-Wetterexperten Jörg Kachelmann. Eine Ex-Freundin beschuldigt ihn, sie vergewaltigt zu haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.

Der Fall Kachelmann war und ist ein wahres Fressen für die Boulevard-Medien. Er bietet alle Ingredienzen, die es für saftige Stories braucht: Sex, Crime und Promi. Peter Studer, Experte für Medienrecht, hat die Berichterstattung streckenweise «mit Missmut verfolgt».

swissinfo.ch: Wie haben Sie die Berichterstattung erlebt?

Peter Studer: Hier hat eine sehr eindringliche Verdachts-Berichterstattung, gestützt auf einseitige Informationen, stattgefunden. Nicht nur die Boulevard-Medien, sondern auch die Internet-Ausgaben von Qualitätszeitungen haben viel gebracht, das die Privatsphäre von Jörg Kachelmann verletzt hat.

swissinfo.ch: Konnten Sie Unterschiede zwischen der Berichterstattung in Deutschland und jener in der Schweiz feststellen?

P.S.: Die meisten negativen Sensationsmeldungen gingen von deutschen Boulevard-Medien aus. Und die Schweizer Boulevard- und Internet-Medien müssen sich zum Teil den Vorwurf gefallen lassen, dass sie diese Meldungen einfach übernommen haben, oft zwar mit Quellenangabe, aber das macht es nicht besser.

Umgekehrt entstanden seltsame Allianzen, wobei sich deutsche Journalisten entweder mit Kachelmanns Verteidigern oder dann mit den Staatsanwälten verbündeten.

swissinfo.ch: Und die Schweizer Qualitäts-Medien?

P.S.: Die haben sich oft um eine kritische Distanz bemüht. In der Neuen Zürcher Zeitung und im Tages-Anzeiger habe ich sehr gute und differenzierte Artikel gelesen.

swissinfo.ch: Sie haben die Internet-Medien erwähnt. Stellt sich da ein zusätzliches Problem?

P.S.: Bei den neuen Medien wird sehr schnell, oft überschnell gearbeitet. Die meisten Internet-Redaktionen haben einen so genannten Klickometer, der aufzeigt, welche Meldungen vom Publikum besonders fleissig heruntergeladen werden. Dort wird dann versucht, möglichst viel nachzuliefern. Das ist die neue Versuchung, die im Internet entstanden ist.

swissinfo.ch: Welche Aufgabe haben beziehungsweise hätten die Medien im Fall Kachelmann gehabt?

P.S.: Auf die Frage, wie man mit einer Verdachtsmeldung über eine prominente Person umgeht, gibt der deutsche Bundesgerichtshof eine sehr präzise Antwort:

Der mutmassliche Vorfall muss gravierendes Gewicht haben, der Verdacht muss sich auf belastende Tatsachen stützen, in der Berichterstattung darf nur vom «mutmasslichen Täter» und «mutmasslichen Opfer» die Rede sein, um die Unschuldsvermutung nicht zu durchlöchern.

Neben belastenden müssen auch entlastende Gesichtspunkte aufgeführt werden, und der Verdächtige oder sein Anwalt sollen Gelegenheit zur Stellungnahme haben.

In der Schweiz gibt es ähnliche, wenn auch weniger präzise Regeln, in Gerichtsurteilen oder als Journalistenpflichten im medienethischen «Journalistenkodex».

swissinfo.ch: Kachelmann ist eine öffentliche Figur und steht gerne im Rampenlicht. Hatten denn die Medien eine andere Wahl, als über diesen Fall zu berichten?

P.S.: Über sein Privatleben hatte Kachelmann bis jetzt – so scheint mir – einen Vorhang gezogen und sich nicht mit seinen Liebschaften oder Beziehungsproblemen geoutet, wie das Stars oft tun.

Er ist eine Persönlichkeit des Showbusiness, hat die Wettersendung in dieser Form praktisch erfunden und sie in Deutschland noch ausgebaut.

Wenn eine solche Persönlichkeit in Untersuchungshaft genommen und mit schweren Vorwürfen belastet wird, darf darüber im Rahmen dieser Regeln berichtet werden.

swissinfo.ch: Besteht also ein Konflikt zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz Kachelmanns?

P.S.: Dass die Neugierde, der «Gwunder», der Öffentlichkeit geweckt wird, reicht nicht. Es muss ein öffentliches Informations-Interesse da sein.

Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im berühmten Fall von Caroline von Monaco 2004 ganz klar festgehalten. Dem müssen sich alle Medienkulturen Europas anpassen.

Dazu das Zitat des bekannten deutschen Medienanwalts Prinz: «Niemand muss Eingriffe in seine Privatsphäre hinnehmen, wenn dies lediglich der Unterhaltung anderer dienen soll. Ein Eingriff muss vielmehr durch eine Information gerechtfertigt sein, die für die Gesellschaft von Bedeutung ist.»

Das erlegt den Medien eine gewisse Zurückhaltung auf. Auch wenn die ganze Problematik der Vergewaltigungen in Beziehungen ein gewisses gesellschaftliches Interesse rechtfertigt und darüber berichtet werden darf, soll das innerhalb von Grenzen erfolgen.

swissinfo.ch: Und wo liegen diese Grenzen?

P.S.: Man muss am Einzelfall eine Güterabwägung zwischen öffentlichem Interesse und Privatsphäre durchführen. Beide Güter sind in der neuen schweizerischen Bundesverfassung 2000 ausdrücklich garantiert.

swissinfo.ch: Wurden die Medienrechte im Fall Kachelmann verletzt?

P.S.: Meiner Meinung nach gab es eine Reihe von Berichten, welche die Privatsphäre von Kachelmann verletzten. Zum Beispiel hat der Blick-am-Abend eine so genannte Topnews Nummer 5 publiziert mit dem Titel: «So schleimte er per SMS». Untertitel: «Schmalzig, der Wettermann schrieb 50 klebrige SMS an Popsternchen Indira…» Und dann wird aus diesen privaten Messages zitiert.

All das hat nichts mit dem Fall zu tun, und es besteht kein gesellschaftliches Interesse für solche SMS.

swissinfo.ch: Ist jetzt Kachelmanns Ruf für immer geschädigt, auch wenn er freigesprochen würde?

P.S.: Nein, das glaube ich nicht. Wenn ein Freispruch erfolgt, wird wahrscheinlich wieder Gras über die Geschichte wachsen, obwohl der Ruf des Strahlemanns gewiss verschlissen ist.

In Deutschland kann ich mir vorstellen, dass Kachelmann nach einer Abstandspause wieder zum Zug kommt. In der Schweiz ist er ja, soweit ich sehe, kaum mehr aufgetreten.

swissinfo.ch: Ist die Hemmschwelle der Medien in Bezug auf die Offenlegung von Privatleben so genannter Promis gesunken?

P.S.: Ich glaube schon, obwohl ich das wissenschaftlich nicht abgeklärt habe. Denn der Wettbewerb zwischen den Medien hat sich verschärft: Den Printmedien, vor allem dem Boulevard, geht es weitherum schlecht, was die Aggressivität verschärft.

Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die Rückkehr zum klassischen, aggressiven Boulevard, wie es ihn schon in den 50er- und 60er-Jahren gab.

Heute läuft aber alles sehr viel schneller mit Internet und E-Mail. Ich würde sagen, dass Schädigungspotenzial ist eher gewachsen.

Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch

Jörg Kachelmann wurde am 15. Juli 1958 in Lörrach, Deutschland, geboren. Aufgewachsen ist er in Schaffhausen in der Ostschweiz.

Früh schon interessierte er sich für Meteorologie und arbeitete während der Schul- und Semesterferien für verschiedene Wetterdienste.

In Zürich studierte er Geographie, Mathematik und Physik, machte jedoch keinen Abschluss, sondern ging für ein Volontariat zur Boulevard-Zeitung Sonntagsblick. Später arbeitete er in der Wissenschafts-Redaktion des Schweizer Fernsehens. 1988 wurde er stellvertretender Chefredaktor des Wochenblatts Schweizer Illustrierte.

1989 kaufte Kachelmann ein altes Bauernhaus und baute dies in eine Wetterstation um. 1990 gründete er den Wetterdienst Meteomedia AG mit Sitz in Gais, Appenzell. Mit rund 100 Mitarbeitern betreibt Meteomedia Niederlassungen in Deutschland, der Schweiz, Kanada und den USA.

2002 übernahm Kachelmann in der ARD die Sendung «Das Wetter im Ersten». Ausserdem moderierte er verschiedene Talkshows.

Kachelmann sieht sich in seinen Persönlichkeits-Rechten verletzt und fordert vom Springer-Verlag Schadenersatz in Millionenhöhe.

«Wir können bestätigen, dass es Forderungen gibt, die sich etwa auf 2 Millionen Euro summieren», bestätigte Tobias Fröhlich, Sprecher der Bild-Gruppe. Der Verlag weise die Forderungen allesamt zurück.

Laut Faz.net fordern die Anwälte von Jörg Kachelmann Schmerzensgeld von Bild und Bild am Sonntag.

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