Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Klares Zeichen gegen weibliche Genitalverstümmelung

Reuters/James Akena

In der Schweiz tritt am 1. Juli eine neue Strafnorm gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien in Kraft. Die Gesetzesänderung soll Familien davor bewahren, dass ihre Töchter beschnitten werden, ob in der Schweiz oder im Ausland.

«Dank der neuen Strafnorm kann die Verstümmelung von weiblichen Genitalien strafrechtlich verfolgt und von einem Schweizer Richter geahndet werden, auch dann, wenn die Straftat im Ausland begangen wurde und sogar in einem Land, in dem diese Tat nicht gesetzlich strafbar ist», sagt Andrea Candrian gegenüber swissinfo.ch. Er ist stellvertretender Leiter des Direktionsbereichs Internationale Rechtshilfe im Bundesamt für Justiz (BJ).

Nach der neuen Gesetzgebung kann jede Person, die eine Verstümmelungshandlung durchführt dafür verantwortlich gemacht und bestraft werden. «Zusätzlich können Personen strafrechtlich verfolgt werden, die bei einer solchen Straftat mitgewirkt oder sonst wie dazu beigetragen haben. Wenn zum Beispiel die Familie des Mädchens eine Genitalverstümmelung organisiert hat, können neben der Person, welche die Beschneidung durchführt, auch die mitbeteiligten Familienmitglieder strafrechtlich verfolgt werden», erklärt Candrian.

Zielscheibe der neuen Strafnorm sind nicht Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung, die in anderen Ländern durchgeführt werden, sondern Ziel ist es, die Eltern davon abzuhalten, ihre Töchter zu dieser schmerzhaften und schwächenden Prozedur zu zwingen. Der Grad der Verstümmelung nebst den persönlichen Umständen der Täter sollen für die Höhe des Strafmasses ausschlaggebend sein, das bis zu zehn Jahren Gefängnis oder hohen Geldstrafen gehen kann.

Schon 2008 fand ein Gericht in Zürich ein Ehepaar aus Somalia wegen Körperverletzung an ihrer Tochter für schuldig, dies im ersten Schweizer Gerichtsfall von Genitalverstümmelung. Die Klitoris-Beschneidung war in der Wohnung der Familie im Kanton Zürich durchgeführt worden, als das Mädchen zwei Jahre alt war. Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, dass eine Hebamme die Beschneidung durchgeführt hatte, doch konnte dies nicht bewiesen werden. 

Unmissverständliches Signal

«Die neue Strafnorm ist ein klares und unmissverständliches Signal, dass die Schweiz diese Menschenrechtsverletzung nicht toleriert. Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist eine Verletzung der Menschenrechte und eine schwere Verletzung der Kinderrechte, die explizit das Recht auf physische Integrität garantieren», sagt Katrin Piazza, Sprecherin des UNO-Kinderhilfswerks Unicef, gegenüber swissinfo.ch.

2010 verlangte Unicef Schweiz in einer von rund 20’000 Personen unterschriebenen Petition strengere Massnahmen gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien. Das Schweizer Parlament forderte den Bundesrat zu einer entsprechenden Gesetzesänderung auf.

Nach Unicef-Schätzungen erlitten in der Schweiz 7000 Frauen und Mädchen eine Genitalverstümmelung oder riskieren eine solche in naher Zukunft. Die Zahl basiert auf Umfragen aus den Jahren 2001 und 2004. Die Ergebnisse der jüngsten Umfrage sollen im Herbst dieses Jahres veröffentlicht werden.

«Es ist schwierig, die Daten zu erfassen, denn die meisten Opfer wagen es nicht, über ihre Beschneidung zu sprechen, sogar nicht einmal über ihre aktuellen Leiden. Unicef Schweiz arbeitet in seiner neusten Umfrage mit Gynäkologen, Hebammen und Sozialarbeiterinnen zusammen – und wenn möglich Angehörigen der betroffenen Gemeinschaft», sagt Katrin Piazza.

Laut Unicef könnte die Anzahl betroffener Frauen und Mädchen aktuell höher sein, weil eine grosse Zahl von Migranten aus Ländern wie Eritrea kommt, wo die Praxis der Klitoris-Beschneidung üblich ist.

Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das die Verstümmelung weiblicher Genitalien via Gesetz bekämpfen will. Laut Andrea Candrian haben auch Länder wie Schweden und Grossbritannien spezifische Massnahmen gegen genitale Verstümmelung eingeführt. «Andere Länder wie Frankreich und Deutschland gehen die Tat mit allgemeinen Verfügungen des nationalen Rechts an.»

Gesetz allein genügt nicht

Für Candrian ist das Gesetz aber nicht die einzige Antwort auf das Problem. «Massnahmen und Informationskampagnen bezüglich Prävention in Migrantenkreisen könnten sogar wichtigere und nützlichere Instrumente sein im Kampf gegen Verstümmelung.»

Katrin Piazza von Unicef Schweiz teilt diese Meinung: «Das Gesetz allein genügt nicht. Es besteht immer das Risiko, dass die Beschneidung einfach klandestin durchgeführt wird. Wenn eine Gemeinschaft eine schädliche soziale Praxis ausübt, ist es für einen einzelnen Menschen schwierig , sich dieser zu widersetzen – sogar wenn sie oder er sich der Gefahr bewusst ist.»

Für Piazza ist die Bildung von Allianzen in den Migrationsgemeinschaften und zwischen Ärzten, Menschenrechtsaktivisten, Frauen- und Jugendorganisationen, Lehrkräften sowie religiösen Führern äusserst wichtig – und nicht zu vergessen die Kindern, welche die Unicef-Sprecherin als «einen wichtigen Lenker der Veränderung» bezeichnet.

Kulturelle Überlegenheit?

Einige Leute fragen sich, ob die ganze Aufregung im Zusammenhang mit Genitalverstümmelung in der Schweiz nicht lediglich eine Angelegenheit von Aktivisten sei.

«Ich rief Vertreter und Übersetzer von Gemeinschaften aus Ländern an, in denen weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird. Ich fragte, ob sie schon jemals gehört hätten, dass diese Praxis hier in der Schweiz weitergeführt werde. ‹Nein›, antworteten sie alle», sagt Abdul Abdurahman, ein im Kanton Aargau tätiger Sozialarbeiter und Vorstandsmitglied von ‹Second@s Plus›, einer Organisation, die Ausländer der zweiten und dritten Generation vertritt.

Der aus Äthiopien stammende Abdurahman besucht sein Geburtsland regelmässig. Weibliche Genitalverstümmelung ist in diesem Land jetzt verboten. Bei der nomadischen Bevölkerung sei es aber immer noch ein Thema, sagte er gegenüber swissinfo.ch.

Hier in der Schweiz hat der Äthiopier mit eritreischen und somalischen Familien gearbeitet. «Ich befragte sie über die Tradition der weiblichen Genitalverstümmelung, und sie erklärten, sie würden ihren Töchtern niemals antun, was sie selber erlitten hätten.

Abdurahman vermutet, dass der heutige Aktivismus in der Frage Ausdruck von «kultureller Überlegenheit» sein könnte und «der alten Tradition der Weissen, den Schwarzen zu sagen, wie sie leben sollen». Vorurteile müssten abgebaut werden, betont der Sozialarbeiter.

«Ich glaube, dass die Leute, die hierher kommen, glücklich sind, diese Kultur hinter sich zu lassen. Ob wirtschaftliche oder politische Flüchtlinge, sie sind für ein besseres Leben in die Schweiz gekommen.»

Abdurahman hat auch mit Männern über das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung gesprochen. «Ich fragte sie, ob sie eine beschnittene Frau möchten oder nicht. ‹Nein, das ist besser für unser eheliches Sexualleben›, antworteten sie. Sie wollen keine Frau, die leidet.»

Die Verstümmelung weiblicher Genitalien umfassen sämtliche Prozeduren, welche die Teil- oder Totalentfernung der äusserlichen weiblichen Genitalien oder andere Verletzungen der weiblichen Genitalorgane aus nicht-medizinischen Gründen betreffen.

Diese Praxis kommt am häufigsten in den westlichen, östlichen und nordöstlichen Regionen Afrikas vor sowie in einigen asiatischen und nahöstlichen Ländern – ebenso bei Migranten aus diesen Regionen. Befürworter der weiblichen Genitalverstümmelung führen kulturelle, religiöse und soziale Gründe an.

Weibliche Genitalverstümmelung wird in vier Haupttypen eingeordnet:

Typ I (auch «Sunna“ oder «Sunnah»): teilweise oder vollständige Entfernung des äusserlich sichtbaren Teils der Klitoris (Klitoridektomie) und/oder der Klitorisvorhaut (Klitorisvorhautreduktion).

Typ II: teilweise oder vollständige Entfernung des äusserlich sichtbaren Teils der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Schamlippen (Exzision).

Typ III (auch Infibulation): Verengung der Vaginalöffnung mit Bildung eines deckenden Verschlusses, indem die inneren und/oder die äusseren Schamlippen aufgeschnitten und zusammengefügt werden, mit oder ohne Entfernung des äusserlich sichtbaren Teils der Klitoris.

Typ IV: In dieser Kategorie werden alle Praktiken erfasst, die sich nicht einer der anderen drei Kategorien zuordnen lassen. Die WHO nennt beispielhaft das Einstechen, Durchbohren, Einschneiden (Introzision), Abschaben sowie die Kauterisation von Genitalgewebe.

(Quelle: Weltgesundheits-Organisation WHO)

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft