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Als die Schweiz flüchtige Kinderschänder ins Land liess

Kinder in Indien
Schwache Gesetze und ungenügender internationaler Austausch helfen pädophilen Kriminellen, der Justiz zu entkommen. Keystone / Biswaranjan Rout

Einem Schweizer Ehepaar, das in Indien wegen Kindsmissbrauchs verurteilt wurde, gelang die Flucht in die Schweiz. 20 Jahre nach ihrer Verhaftung könnten grenzüberschreitende juristische Probleme den beiden helfen, erneut einer Strafe zu entgehen.  

Es war kurz vor Weihnachten im Jahr 2001, als die indische Kinderschutzaktivistin Sangeeta Punekar von einem ehemaligen Strassenjungen, der mittlerweile als Taxifahrer arbeitete, angesprochen wurde. Er erzählte ihr, dass ein ausländisches Paar verdächtig in Mumbai herumstreife und er anstössiges Material auf ihrem Laptop gesehen habe.

«Er bat uns, etwas zu unternehmen», erzählt Punekar gegenüber swissinfo.ch. «Der Mann sagte uns auch, wo sich das Paar aufhielt, da er es einmal bei ihrem Hotel abgesetzt hatte.»

Polizei wimmelt zuerst ab

Punekar verbrachte die nächsten Tage damit, die beiden zu verfolgen. Ihr schlimmster Verdacht wurde schliesslich bestätigt: Das Paar lockte Strassenkinder in ihr schickes Hotel in einem Vorort der indischen Millionenstadt. Punekar wandte sich mit ihren Informationen an den Polizeichef, doch wurde abgewimmelt.

Schliesslich gelang es ihr, einen jüngeren Polizeibeamten davon zu überzeugen, einzugreifen, wenn man das Paar auf frischer Tat ertappen würde. Punekar hatte Glück: Eines Tages sah sie die beiden Verdächtigen, wie sie mit zwei Mädchen in ein Taxi stiegen. Sie nahm den Zug und erreichte das Hotel vor dem Paar. Dort wartete sie in der Lobby.

«Als sie das Hotel betraten, sah ich, dass die beiden Strassenmädchen ein komplettes Makeover erhalten hatten: Ihre Haare waren gebürstet, sie trugen neue Outfits und Plüschtiere in der Hand», sagt sie. Die beiden Mädchen im Alter von neun und elf Jahren, die auf der Strasse Blumengirlanden verkauften, waren verkleidet worden, so dass das Hotelpersonal keinen Verdacht schöpfte. Als das Paar sein Zimmer betrat, rief Punekar die Strafverfolgungsbehörden an. Rund eine Stunde später stürmte die Polizei den Raum.

Angst vor dem weissen Europäer

Als die Beamten eintraten, lief im Fernsehen ein Pornofilm und im Zimmer waren Kameras fürs Filmen aufgestellt worden. Abgesehen davon, dass die beiden auf frischer Tat ertappt wurden, fand die Polizei genug Beweise, um sie zu verhaften. Das Paar stammte aus der Schweiz.

Im Gepäck hatte es Kinderkleidung, Reizwäsche und Sexspielzeuge, und auf dem Laptop stiessen die Polizisten auf Kinderpornografie von früheren Reisen nach Indien und in andere Länder. In einem verzweifelten Versuch, Beweise zu vernichten, steckte sich der Verhaftete eine Speicherkarte in den Mund und zerkaute sie.

«Bei der Verhaftung sagte er, dass er seit elf Jahren hierherkomme, dass jeder Inder korrupt sei und er wisse, wie er jeden von uns kaufen könne», erinnert sich Punekar. Sie glaubt, dass die indische Polizei so zaghaft vorging, weil sie Angst vor «dem weissen Mann aus Europa» hatte.

Juristisches Gerangel

Zu dieser Zeit gab es in Indien kein spezielles Gesetz zur Bekämpfung von sexuellem Kindsmissbrauch. Nur Vergewaltigung – unabhängig davon, ob das Opfer nun ein Erwachsener oder ein Kind war – wurde als Verbrechen eingestuft. Das Paar (ihre Namen werden aus Datenschutzgründen nicht genannt) wurde vor ein Mumbaier Gericht gestellt.

Auch die Schweizer Polizei half mit, Beweise zu sammeln. «Wir trafen uns damals mit Beamten in Indien. Sie zeigten uns Material, das sie in der Schweizer Wohnung des Paares beschlagnahmt hatten», sagt Punekar.

Das Paar engagierte zahlreiche Anwälte, wurde aber im März 2003 trotzdem zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Es war ein grosser Sieg für die Kinderrechte in Indien, denn zuvor waren im Land erst zwei andere Ausländer wegen sexuellen Kindsmissbrauchs verurteilt worden. Der Fall habe vielen Menschen die Augen geöffnet, besonders Polizisten und Justizbeamten, sagt Punekar. «Bis dahin glaubten Richter und leitende Polizeibeamte, dass ältere Männer und Frauen zu solchen Taten nicht fähig sind.»

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Der Triumph der Staatsanwälte war jedoch nur von kurzer Dauer. Die beiden Schweizer legten Berufung ein beim Mumbai High Court und wurden kurze Zeit später aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters freigelassen, nachdem sie jedem der Opfer umgerechnet rund 3000 Franken bezahlt hatten. Sie hatten nur die Hälfte ihrer siebenjährigen Haftstrafe verbüsst.

Punekar und andere Kinderrechtsaktivisten protestierten gegen den Entscheid, der Generalstaatsanwalt des Bundesstaates wandte sich an den Obersten Gerichtshof Indiens, um die Aufhebung des Urteils zu erreichen. Dieser gewährte dem Paar eine Kaution, lehnte aber ihren Antrag ab, das Land verlassen zu dürfen. Die nach der Verhaftung beschlagnahmen Pässe wurden ihnen nicht zurückgegeben.

Doch wenige Tage später floh das Paar aus Indien.

Dokumente unter Verschluss  

«Wir wussten, dass sie fliehen würden», sagt Punekar. Sie glaubt, dass die Schweizer auf Kaution freigelassen wurden, weil «indische Beamte nicht wollen, dass ausländische Staatsbürger im Gefängnis sterben, weil das international für Furore sorgt.»

Der Mann habe bei der Verhaftung gesagt, er besitze mehrere Pässe und wisse, wie er entkommen könne. Punekar glaubt, dass das Paar über die Grenze nach Nepal floh.

Unklar bleibt aber, wie es ihnen gelang, in die Schweiz zurückzukehren. Im Schweizer Bundesarchiv lagern neun Dokumente, in denen das Paar erwähnt wird. Darunter sind sechs Akten, die das Konsulat in Mumbai betreffen, eine, die mit der Botschaft in Neu-Delhi in Verbindung steht, und zwei, die das Schweizer Aussendepartement betreffen.

Ein Antrag von swissinfo.ch, Zugang zu den Dokumenten zu erhalten, wurde vom Aussendepartement abgelehnt – dieser Entscheid wird nun angefochten. In der Schweiz unterliegen sensible Dokumente einer Schutzfrist von 30 oder 50 Jahren, und die Regierung behält sich das Recht vor, Anträge auf Einsicht zu verweigern.

Die beiden Flüchtigen stehen immer noch auf der Red Notice-Fahndungsliste von Interpol. Das ist kein internationaler Haftbefehl, sondern eine «Aufforderung an Strafverfolgungsbehörden weltweit, eine Person zu lokalisieren und vorläufig festzunehmen bis sie ausgeliefert werden kann».

Indien hat ein Auslieferungsabkommen mit der Schweiz, das aber nicht für Schweizer Staatsangehörige gilt. Die Schweiz hat jedoch die Möglichkeit, Personen, die in anderen Ländern verurteilt wurden, zu überstellen. Doch dafür muss unter anderem ein «rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil» vorliegen.

Punekar
Punekar, die zum Zeitpunkt der Verhaftung des Schweizer Paares im Jahr 2000 anwesend war, wusste nichts von dem Prozess in der Schweiz. Sangeeta Punekar

Der Fall des Schweizer Ehepaars ist jedoch beim Obersten Gerichtshof in Indien hängig, so dass die Bedingung der Vollstreckbarkeit in den Augen der Schweizer Behörden nicht erfüllt ist.

Ehepaar auf freiem Fuss

Aus den Dokumenten im Archiv geht auch hervor, dass die Verbrechen des Paares nach der Rückkehr in die Schweiz weitergingen. Der heute 79-jährige Mann musste sich in Frauenfeld wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern und Kinderpornografie vor Gericht verantworten. Die Verbrechen wurden in der Schweiz begangen.

«Es ist ermutigend zu wissen, dass weiter gegen ihn vorgegangen wird. Aber zugleich ist es entmutigend, weil er mit seinen Untaten einfach weitermachen konnte», sagt Punekar.

Artikel 5 des Schweizer Strafgesetzbuchs erkennt Straftaten an Minderjährigen im Ausland an. Es obliegt jedoch einem Schweizer Gericht zu entscheiden, «ob eine im Ausland angeordnete, aber dort nur teilweise vollzogene Massnahme fortgesetzt oder an die in der Schweiz verhängte Strafe angerechnet werden muss.»

Bei der Verhandlung im August hatte das Frauenfelder Gericht das Verfahren gegen den 79-Jährigen wegen Unklarheit über den Stand des Strafverfahrens gegen ihn und seine Frau in Indien abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft forderte für den Mann eine zwölfmonatige Gefängnisstrafe und eine Geldstrafe von 2000 Franken. Das Gericht verlangte von den Staatsanwälten, die indischen Behörden um Rechtshilfe zu bitten.

«Die strafrechtliche Untersuchung ist wieder pendent, zurzeit werden weitere Abklärungen getroffen», sagt Marco Breu von der Staatsanwaltschaft Frauenfeld. «Sobald diese Abklärungen abgeschlossen sind, ist eine neue Anklage geplant.»

Vorerst ist das Ehepaar also auf freiem Fuss. Wann mit einer neuen Anklage zu rechnen ist, konnte die Staatsanwaltschaft nicht sagen. Vieles hänge von den indischen Behörden ab. Angesichts des fortgeschrittenen Alters und des schlechten Gesundheitszustands des Angeklagten ist es möglich, dass er der Justiz letztlich entkommt.

Es wird kaum vor Sextouristen gewarnt

Es existieren keine genauen Statistiken darüber, wie viele Menschen ins Ausland reisen, um Sex mit Kindern zu haben. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) schätzt, dass es rund 250’000 Personen pro Jahr sind. Die Zahl umfasst jedoch die Gelegenheitstäter nicht, von denen angenommen wird, dass sie einen Grossteil der Fälle ausmachen.

Ein indirektes, aber eher schlechtes Mass für kriminelle Aktivitäten sind die «Green Notices» von Interpol. Das sind freiwillige Warnungen von Staaten über Straftäter, die wahrscheinlich wieder straffällig werden. Zwischen 2011 und 2015 wurden im Zusammenhang mit sexuellem Kindmissbrauch insgesamt 1928 «Green Notices» über reisende Straftäter ausgestellt. Die überwiegende Mehrheit davon (fast 95 %) entfiel auf die beiden amerikanischen Kontinente.

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Laut der Global Study on the Sexual-Exploitation of Children in Travel and Tourism gibt es auch kein typisches Profil eines transnationalen Kinderschänders. Nur eines haben praktisch alle Täter gemeinsam: Laut Zahlen der Organisation Ending Child Prostitution and Trafficking und Interpolaus dem Jahr 2018 sind 92,7 % von ihnen männlich. Die Täter sind Geschäftsreisende, Arbeitsmigranten, Expats und einheimische Reisende.

Der Stereotyp des weissen, westlichen Pädophilen mittleren Alters existiert, aber es gibt auch andere Arten von Missbrauchstätern: Zum Beispiel asiatische Männer, die auf der Suche nach jungfräulichen Minderjährigen nach Südostasien reisen, junge Geschäftsreisende, die minderjährige Prostituierte in Brasilien missbrauchen, oder sogar Sextouristinnen, die nach Sri Lanka reisen, um sogenannte «Beach Boys» auszubeuten.

«Don’t look away»

Die Schweiz setzt sich für weltweite Initiativen zur Eindämmung des Sextourismus mit Kindern ein. Sie half beim Aufbau des Verhaltenskodex zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung in der Reise- und Tourismusbranche mit, auch bekannt als «The Code». 2009 startete die Schweiz gemeinsam mit Österreich und Deutschland die Kampagne «Don’t look away», die das Bewusstsein für Sextourismus schärfte und eine Online-Plattform für die Meldung verdächtiger Fälle weltweit schuf.

Es gibt keine offiziellen Statistiken über die Anzahl der Schweizer, die im Ausland Sexualverbrechen an Minderjährigen begehen. Die Schweizer Bundespolizei (Fedpol) hat ein Online-Meldeformular, das es jedem ermöglicht, einen Verdachtsfall zu melden. Laut einem Fedpol-Vertreter sind seit 2015 insgesamt nur 47 Meldungen eingegangen.

Ein Unicef-Bericht aus dem Jahr 2006, der den Kindersextourismus an der kenianischen Küste untersuchte, kam zum Schluss, dass rund 12% der Schweizer, welche in die Küstenstädte Malindi, Mombasa, Kilifi und Diani reisen, minderjährige Mädchen sexuell ausbeuten. Die Schweizer liegen damit an dritter Stelle hinter den Italienern (18 %) und den Deutschen (14 %).

Kantone haben ab 2021 die Verantwortung

In den vergangenen Jahren gingen mehrere Fälle von Kindsmissbrauch durch Schweizer im Ausland durch die Medien, darunter ein 66-Jähriger, der 2018 in Nepal verhaftet wurde, weil er einen 16-jährigen Jungen in einem Hotel sexuell ausgebeutet hatte, und ein 81-jähriger Mehrfachtäter, der 2012 in Kambodscha wegen ähnlicher Delikte zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.

Es gibt jedoch nur einen Fall, bei dem ein Schweizer in der Schweiz wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen im Ausland verurteilt wurde. Der Mann war in der Schweiz zweimal wegen Kindsmissbrauchs verurteilt worden, konnte aber nach Thailand fliehen. Die Polizei erwischte ihn dort und brachte ihn zurück in seine Heimat. Nach seiner Entlassung reiste er erneut nach Thailand, wo er Buben für Sex und die Produktion pornografischer Inhalte ausbeutete. 2018 wurde der Mann – er war damals über 70 Jahre alt – vom Strafgericht Greyerz zu einer 16-jährigen Haftstrafe verurteilt. Er hatte in Thailand während rund eines Jahrzehnts mindestens 80 Buben sexuell missbraucht.

«Menschen mit solchen Absichten profitieren von den Unterschieden zwischen den Strafverfolgungssystemen», sagt Tamara Parham von der Stiftung Kinderschutz Schweiz.

Sie befürchtet, dass pädophile Verbrecher bald auch von den rechtlichen Unterschieden innerhalb der Schweiz profitieren werden. Ab 2021 wird der Bund die Verantwortung für verdeckte Ermittlungen gegen Kinderpornografie an die 26 Kantone des Landes abgeben.

«Und das, obwohl die Kantone keine – oder zu wenige – Ressourcen für dieses Problem aufwenden», kritisiert Parham. «Weil sich die Gesetze von Kanton zu Kanton unterscheiden, wirken die Kantonsgrenzen auch als Barrieren für die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden.»

Ihre Organisation setzt sich für die Schaffung einer nationalen Strategie zur Bekämpfung von Kinderpornografie ein.

Hoffen in Indien

Die indische Kinderrechtsaktivistin Punekar hofft ihrerseits, dass das Ehepaar, für dessen Verurteilung sie jahrelang gekämpft hat, der Justiz nicht noch einmal entkommt und der Fall Aufmerksamkeit generiert: Das Problem sei nicht nur der sexuelle Missbrauch an sich, sondern auch die bestehenden Gesetzeslücken.

«Noch wichtiger als das Strafmass ist es, dass die Schweiz anerkennt, dass solche Straftaten passieren und diese Leute verurteilt werden müssen.»

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