Zürich und die Wohnbau-Genossenschaften
Zürich gilt als die Schweizer Genossenschaftsstadt und ist Sitz innovativer Siedlungen. In der teuersten Stadt des Landes sind die gemeinnützigen Wohnformen nicht nur gut etabliert und erfolgreich, sondern auch sehr beliebt. Michael Eidenbenz – promovierter Architekt, Forscher und Genossenschafter – arbeitet beim Zürcher Regionalverband von Wohnbau-Genossenschaften SchweizExterner Link und kennt die Materie.
Serie: So wohnen Schweizer und Schweizerinnen.
swissinfo.ch: Wie positionieren sich die Wohnbau-Genossenschaften im Zürcher Mietwohnungsmarkt?
Michael Eidenbenz: Zurzeit gibt es in Zürich gegen 225’000 Wohnungen. Davon gehören 18% einer Wohnbau-Genossenschaft und 6% der öffentlichen Hand. Diese Wohnungen werden nach dem Prinzip der Kostenmiete vermietet. Das heisst, die Mieten decken nur die anfallenden Kosten und die Rückstellungen für Erneuerungen. Dadurch sind sie wesentlich günstiger als viele Mietwohnungen auf dem freien Markt. Im hochpreisigen Zürich liegt deren Mietzins bei Neuvermietungen oft über 400 Franken pro Quadratmeter.
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So wohnen Schweizer und Schweizerinnen
swissinfo.ch: Was sind die Gründe für den Erfolg der Wohnbau-Genossenschaften in Zürich?
M.E.: Die Zürcher Regierung hat bereits vor über hundert Jahren erkannt, dass sie das Problem des Wohnungsmangels nur in Zusammenarbeit mit privaten gemeinnützigen Genossenschaften lösen kann. Diese Selbsthilfe-Organisationen waren ein idealer Partner für die öffentliche Hand, da sie mehr riskierten als der klassische Investor und ihre Siedlungen oft am Rand oder ausserhalb der Kernstadt bauten.
Dadurch erlebte der genossenschaftliche Wohnungsbau Mitte der zwanziger Jahre – im roten Zürich – und in den vierziger Jahren zwei grosse Bauschübe. Der Mut dieser Pioniere hat sich ausbezahlt: Heute befinden sich diese Siedlungen inmitten von Zürich.
Mittlerweile hatte sich Zürich von der Arbeiterstadt, die sie bis in die 70er-Jahre war, in eine «global City» gewandelt, und viele Genossenschafter fragen sich, wie sie in Zukunft wohnen und arbeiten wollen. Die vielen Wettbewerbe, welche die Genossenschaften in der Folge durchführten, lieferten dank all den hervorragenden Architekturbüros in Zürich oft sehr schlüssige, neuartige und wegweisende Antworten auf diese Fragen.
swissinfo.ch: Welches sind die heutigen oder zukünftigen innovativsten Merkmale der Wohnbau-Genossenschaften in der Stadt?
M.E.: Nach wie vor beschäftigen sich die meisten Genossenschaften mit Fragen zur nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft. Im weitesten Sinn geht es immer um die Frage wie wir hausen, damit wir unsere Bedürfnisse befriedigen können, ohne die Bedürfnisse zukünftiger Generationen oder anderer Gemeinschaften zu beschneiden.
In den letzten Jahrzehnten haben Genossenschaften deshalb viel investiert, um ihren ökologischen Fussabdruck zu reduzieren. So haben sich energieeffiziente Gebäude in Zürich etabliert, und auch autoarme Siedlungen sind keine Seltenheit mehr.
In Zukunft werden vermutlich gesellschaftliche Themen wichtiger werden. Die Wiederentdeckung des Kollektivs als Reaktion auf die digitale Vereinsamung hat bereits begonnen. Das Stichwort heisst «Commons». Können wir uns gemeinsam mehr leisten als jeder für sich alleine? Die Frage bezieht sich nicht nur auf den umbauten Raum, sondern auch auf Gebrauchsgegenstände oder Nahrungsmittel. Vor allem die jungen Genossenschaften, die ab Mitte der 90er-Jahre gegründet wurden, beschäftigen sich mit diesen Fragen.
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swissinfo.ch: Für einige sind Wohnbau-Genossenschaften nur dank Quersubventionierungen überlebensfähig und ein Paradies für die wenigen Privilegierten. Ist das so?
M.E.: Der Vorwurf der verdeckten Subventionierung als Existenzgrundlage der Genossenschaften taucht häufig im Zusammenhang mit Grundstücken auf, welche die Stadt Zürich im Baurecht abgegeben hat. Er ist jedoch aus der Luft gegriffen. Erstens stehen 87% der Genossenschaftswohnungen auf eigenem Grund, zweitens zahlen die wenigen Genossenschaften, die Land im Baurecht haben, nicht nur angemessenen jährlichen Zins, sondern erbringen auch sehr viele Leistungen, die der ganzen Stadt zu Gute kommen. So sichern sie beispielsweise preisgünstigen Wohnraum oder engagieren sich in der Nachbarschaft und im Quartier.
swissinfo.ch: Was ist Ihre persönliche Erfahrung mit dem Leben in einer Wohnbau-Genossenschaft?
M.E.: Die genossenschaftliche Siedlung. in der ich lebe, ist selbstverwaltet. Dies braucht viel Zeit und bringt teilweise Frust, aber vor allem auch viel Freude mit sich. Die schönsten Momente erlebe ich jeweils, wenn wir wieder einmal Differenzen ausdiskutieren konnten und einen Konsens gefunden haben.
Ich engagiere mich aber nicht nur in der Koordination des Siedlungslebens, sondern helfe auch, Feste zu organisieren und repariere auch mal ein Türschloss.
swissinfo.ch: Wie sehen Sie die Zukunft der Bau- und Wohngenossenschaften in Zürich?
M.E.: In Zürich gibt es fast keine Baulandreserven mehr. Es stellt sich die Frage wo die Stadt weiterentwickelt werden soll und in welcher Form nach innen verdichtet wird. Durch die Verdichtung des Bestands geht aber auch immer sehr günstiger Wohnraum verloren. Es ist deshalb wichtig, die verschiedenen Aspekte sorgfältig gegeneinander abzuwägen.
swissinfo.ch: Was empfehlen Sie den Personen, die eine Wohnbau-Genossenschaft in anderen Regionen als Zürich gründen wollen?
M.E.: Es müssen mindestens sieben Personen sein, die viel Ausdauer und sehr viel Enthusiasmus haben. Mehr braucht es im Grunde genommen nicht. Eine Unterstützung durch die Politik hilft, ist aber nicht notwendig.
Viele Genossenschaften geniessen bei Kreditgebern eine sehr hohe Bonität und können sich deshalb auch ohne politische Unterstützung vorteilhaft finanzieren.
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