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Lebensmüde Senioren, die sterben wollen

Im letzten Jahr hat Exit 459 lebensmüde Senioren beim Suizid begleitet. Keystone

Zwei Suizidbeihilfe-Organisationen wollen die Sterbebegleitung für betagte Personen liberalisieren, die nicht unheilbar krank sind, aber andere Leiden haben. Ärzte und Ethiker warnen vor Missbrauchsgefahr.

Rund 700 Personen haben letzten Samstag in Zürich der Direktion ihrer Organisation eine neue Aufgabe anvertraut: An ihrer Jahreshauptversammlung beschloss die Deutschschweizer Sterbehilfe-Organisation Exit, sich für das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht zum Sterben von Hochbetagten, den sogenannten «Altersfreitod», einzusetzen.

Die Forderung kommt überraschend. Die Schweiz gehört bereits zu den wenigen Ländern, die unter gewissen Umständen – darunter ein medizinisches Attest – erlauben, dass ein Mensch Sterbehilfe beansprucht.

Diese «medizinisch begleiteten Suizide», für die private Organisationen zuständig sind, sorgen für ständige Debatten. Während die einen Einschränkungen oder sogar ein Verbot fordern, setzen sich andere für eine weitere Liberalisierung ein. Bisher hat aber kein politischer Vorstoss zu einer Änderung des Strafrechts geführt.

Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern weltweit, in denen Suizidbegleitung nicht explizit verboten ist. Bestraft werden nur Personen, die aus egoistischen Gründen jemandem helfen, Suizid zu begehen. Die aktive Euthanasie ist verboten.

Die Sterbehilfe-Organisationen verlangen, dass die betroffenen Personen urteilsfähig sind, ein medizinisches Gutachten vorliegt, der Sterbewille dauerhaft bekundet wird und die Personen über alle anderen Optionen im Bild sind.

Die Niederlande erlauben Suizidbegleitung unter ärztlicher Aufsicht unter strikten Bedingungen.

Ärztlich begleiteter Suizid ist ausserdem in den amerikanischen Staaten Oregon, Washington und Montana erlaubt.

Aber die Sterbehilfe-Organisationen haben es auch mit betagten Menschen zu tun, die zwar keine unheilbaren Krankheiten oder unerträglichen Leiden, aber polypathologische, also mehrere behindernde Krankheiten haben. Um ein medizinisches Rezept für die letale Substanz zu erhalten, müssen sich die Sterbewilligen einer umfassenden physiologischen und psychologischen Untersuchung unterziehen.

«Ein Neunzigjähriger bringt für diese Untersuchungsmethoden nicht die gleiche Toleranz auf wie ein Vierzigjähriger», sagt Exit-Vizepräsident Bernhard Sutter. Es gibt zahlreiche Fälle, bei denen der Arzt alle diese physiologischen Untersuchungen nicht nochmals machen müsste, um den Willen des Patienten zu verstehen.»

Medizinische Abklärungen erleichtern

Zu diesem Punkt will Exit eine Debatte anstossen: «Unter dem Begriff ‹Altersfreitod› hoffen wir, diese Abklärungen zu vereinfachen, denen sich die Betroffenen unterziehen müssen, damit der Arzt das Rezept unterschreibt», erklärt Bernhard Sutter.

Ein Neuenburger Arzt musste vor Gericht erscheinen, weil er in einem solchen Fall nicht alle diese Untersuchungen durchgeführt hatte, bevor er das Rezept für einen achtzigjährigen Patienten ausstellte, der unter Krebs im Endstadion litt. Das Kantonsgericht hat ihn Ende April freigesprochen.

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Gleiche Änderungen in der Romandie

Jérôme Sobel, Präsident der Westschweizer Exit, die nicht an die Deutschschweizer Schwesterorganisation gebunden ist, sagt, dass seine Organisation das Reglement über das Recht auf Sterbebegleitung ebenfalls ändert und die «ans hohe Alter gebundenen Mehrfach-Erkrankungen, welche die Lebensqualität stark beeinträchtigen, hinzufügt».

Für beide Organisationen ist das Kriterium «Endstadium einer Krankheit» oder «Lebensende» zu strikt, um auf die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft zu antworten und den durch die chronischen Krankheiten verursachten Leiden zu begegnen, die nicht immer tödlich sind.

«Ein Gehörschaden, eine Blindheit oder Inkontinenz können langfristig starkes Leiden verursachen, nicht nur Krebs im Endstadium», sagt Bernhard Sutter. Schmerzen zu lindern, gehört laut Jérôme Sobel auch zu den Aufgaben eines Arztes. «Aber meine Berufskollegen sind nicht alle damit einverstanden», sagt er. Viele seien der Meinung, dass es einer Misshandlung gleichkomme, wenn aus medizinischer Sicht nicht alles unternommen werde.

Die Westschweizer Organisation von Exit («Association pour le droit de mourir dans la dignité», ADMD) hat derzeit rund 19’000 Mitglieder, sagt deren Präsident Jérôme Sobel. Ende 2013 waren es 18’564, ein Jahr zuvor 17’690.

Die Mehrheit der Mitglieder sind Frauen (68%). Die meisten sind zwischen 51 und 75 Jahre alt. Die über 75-Jährigen machen 34% aus. 8,5% sind jünger als 50.

2013 hat Exit ADMD 252 Gesuche für Suizidbegleitung erhalten. 155 davon wurden ausgeführt (2012 waren es 144). 141 Begleitungen wurden bei den Patienten zuhause durchgeführt, 10 in Pflegeheimen und 4 in Spitälern.

Die Deutschschweizer Organisation von Exit hat 73’000 Mitglieder. Allein 2013 wurden 5000 Beitritte registriert.

Die Organisation hat 2013 insgesamt 459 Personen in den Tod begleitet (267 Frauen, 192 Männer), 103 Personen mehr als 2012 und 292 mehr als 2009.

Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt bei 77 Jahren.

40 von 459 Suizidbegleitungen wurden in den Exit-Räumlichkeiten durchgeführt, 40 in Pflegeheimen, die anderen bei den Patienten zuhause.

«Diese Entwicklung zeigt, dass immer mehr Menschen eine Suizidbegleitung in Betracht ziehen, weil sie unter einer schweren, ärztlich bestätigten Krankheit leiden», schreibt die Organisation in ihrem jüngsten Bericht.

Der meistgenannte Grund in den Suizidbegleitungs-Gesuchen ist eine Krebsdiagnose (178). Zu den anderen Gründen gehören das Alter und Polypathologien (97), Herzkrankheiten (17), Amyotrophe Lateralsklerosen (8), Schlaganfälle (9), Parkinson (16), psychische Krankheiten (10), Schmerzen (37).

«Andere Optionen vorschlagen»

Die Rolle der Ärzte steht im Zentrum der Debatte, schliesslich sind sie es, die das Rezept ausstellen. Praktizierende Ärzte üben grösste Zurückhaltung gegenüber dem Vorhaben der Exit-Organisationen. «Betagte Menschen können lebensmüde sein», sagt Jürg Schlup, Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). «Aber wenn man ihnen andere Optionen, wie zum Beispiel Palliativ-Medizin, eine umfassende Pflege oder eine neue Behandlung vorschlägt, kommt es nicht selten vor, dass die Suizid-Gedanken verschwinden.»

Der Ärztepräsident fürchtet auch, dass sich gewisse Betagte an Exit wenden könnten, weil sie Angst haben, ihren Angehörigen oder ihrer Umgebung zur Last zu fallen. «Unsere Organisation geht sehr gewissenhaft vor, um zu verhindern, dass alte Menschen auf Druck ihrer Familie oder wegen Erbschaften eine Suizidbegleitung verlangen. Beim geringsten Zweifel lehnen wir das Gesuch ab», sagte Exit-Präsidentin Saskia Frei an der Generalversammlung in Zürich.

«Wir können mit der Statutenänderung von Exit leben, aber wir unterstützen diese nicht», kommentiert Jürg Schlup. Er verheimlicht seine Bedenken gegenüber exzessiven Liberalisierungen nicht: «Die Schweiz hat bereits eine der liberalsten Lösungen weltweit», erinnert er.

Die FMH hat in Bezug auf das Verhalten der Ärzte gegenüber Patienten am Lebensende die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) übernommen. Diese Richtlinien lassen eine medizinische Suizidbegleitung in Ausnahmefällen zu, wenn sie Kriterien genügen, die anspruchsvoller sind als jene in der Schweiz geltenden allgemeinen Rechtsbestimmungen zur Suizidbegleitung», erklärt die FMH in einem Bericht von Anfang 2014.

Die SAMW betont, dass die Zunahme der suizidbegleiteten Fälle die Verantwortung der ganzen Gesellschaft verlange und sich diese nicht an die Ärzte delegieren lasse. Erforderlich sei deshalb «eine Grundsatzdebatte über die Bedingungen, unter welchen Suizidbegleitung geleistet wird».

Die Kriterien bleiben bestehen

Führt die neue Forderung der Exit-Organisationen zu einer weiteren Zunahme der Sterbehilfe-Gesuche? «Nein», antwortet Bernhard Sutter, «weil die geltenden Kriterien nicht geschwächt werden: Personen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, müssen urteilsfähig sein, ihren Willen über eine gewisse Dauer ausdrücken können, unter einer oder mehreren Krankheiten leiden und über alle anderen Optionen im Bild sein».

Exit will – jedenfalls kurzfristig – keine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen verlangen, welche die vorausgehenden medizinischen Abklärungen für den Erhalt eines Rezepts für die letale Substanz betreffen. Vorerst soll lediglich eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden.

Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung sei eine «Liberalisierung der Suizidbegleitung unvermeidbar», ist der Exit-Vizepräsident überzeugt, «weil die künftigen Senioren immer ein selbstbestimmtes Leben geführt haben und dieses am Abend ihres Lebens nicht aufgeben werden».

«Mehr als die Hälfte der Rezepte werden bereits von den Hausärzten ausgestellt, was ein grosser Fortschritt ist», sagt Bernhard Sutter. Sowohl bei Exit wie bei der FMH wartet man gespannt auf die Resultate einer Befragung von rund 5000 Ärzten im Auftrag der SAMW zum Thema Suizidbegleitung. Diese sollen im Herbst veröffentlicht werden.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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