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Mann, Frau, homo, hetero – die Grenzen verschwinden

Deux femmes au style androgyne s embrassent.
"Zuerst muss man sich selbst verstehen, bevor man mit anderen sozialisieren kann", sagt Caroline Dayer. Thomas Kern/swissinfo.ch

Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender bilden die so genannte LGBT-Gruppe. Viele Menschen dieser sexuellen Orientierungen oder geschlechtlichen Identität seien nach wie vor Opfer von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung, sagt Caroline Dayer, Expertin für Genderfragen.

swissinfo.ch:  Queer, Pansexualität, Asexualität: In den letzten Jahren tauchen immer neue Terminologien auf, vor allem bei jungen Menschen, um eine sexuelle Orientierung oder Identität zu definieren. Welche Bedürfnisse decken solche Definitionen ab?

Caroline Dayer: Das Aufkommen immer neuer Begriffe ist der Spiegel einer neuen Realität. Die Diversität und zunehmende Flexibilität im sexuellen Leben bringen ein althergebrachtes Denken ins Wanken, das in der westlichen Welt lang verbreitet war. Die jungen Leute lehnen eine Sichtweise ab, die zwei sich ausschliessende Kategorien der sexuellen Orientierung und Identitäten kennt. Das heisst: Die Kategorien Mann oder Frau, homosexuell oder heterosexuell, die traditionell als getrennte Entitäten ohne Berührungspunkte gesehen werden. Die neuen Terminologien entstehen somit aus der Notwendigkeit, sich selbst in kohärenter Weise zu definieren. Denn zuerst muss man sich selbst verstehen, bevor man mit anderen sozialisieren kann.

Was bedeuten LGBT und LGBTIQ?

LGBT ist eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender, also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Das manchmal verwendete Akronym LGBTIQ steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle und queere Menschen. Es gibt auch noch andere Abkürzungen, um eine Gruppe zu definieren, deren Gemeinsamkeit es ist, nicht der Heteronormativität zu entsprechen.

Hinter diesen Buchstaben verbergen sich auf alle Fälle unterschiedliche Lebensläufe, Probleme und Schwierigkeiten. Aus diesem Grund hat swissinfo.ch entschieden, zu jedem Buchstaben eine Geschichte zu erzählen. So sollen jene zu Wort kommen, die sich hinter dem Sammelbegriff LBGTIQ verbergen. Sie sollen ihre Träume, Erfolge und Forderungen formulieren dürfen.

Diese Artikelserie greift ein wichtiges gesellschaftliches Thema auf. Entdecken Sie es in den nächsten Wochen auf www.swissinfo.ch.  

swissinfo.ch: Ist die Buchstabenfolge LGBT beziehungsweise LGBTIQ in Hinblick auf die Forderungen von sexuellen Minderheiten wichtig?

C.D.: Ja, weil viele Personen, die unter dieses Akronym fallen, immer noch Opfer von Diskriminierung und Gewalt sind. Das gilt für die Schweiz genauso wie für den Rest der Welt. Die Verwendung dieses Terms erlaubt es, Fragen zur Geschlechtergleichbehandlung zu stellen, aber auch Menschen eine Stimme zu geben, die in der Gesellschaft eine Randstellung haben.  

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein, denn hinter dem Akronym LGBTIQ verstecken sich unterschiedliche Menschen und Lebensläufe. Das heisst ganz unterschiedliche Geschichten.

Zudem verweist jeder einzelne Buchstabe auf eine andere Kategorie. Wenn wir von Lesben, Schwulen oder Bisexuellen sprechen, geht es um die sexuelle und emotionale Orientierung. Bei einem Transgender geht es um die geschlechtliche Identität, während es bei der Intersexualität um die Sexualdifferenzierung im biologischen Sinne geht.

Das Q für «Queer» bezieht sich schliesslich auf eine politische Bewegung und entsprechende Theorie. Die Queer widersetzen sich generell sozialen Kategorien. Und insofern ist es eigentlich schon paradox, dass sie selbst als Buchstabe aufgeführt werden und eine Kategorie bilden.

Q bedeutet aber auch «questioning», also «sich Fragen stellen». Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass eine Person im Laufe des Lebens sich Fragen zur eigenen sexuellen Orientierung und zur eigenen sexuellen Identität stellen kann.

swissinfo.ch: Das Akronym LGBTIQ vereint also die unterschiedlichsten Kategorien. Was eint dann letztlich diese Gemeinschaft?

C.D.: Inzwischen führe ich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Forschungen seit 15 Jahren Gespräche mit Personen dieser Gemeinschaft. Dabei habe ich festgestellt, dass für diese Personen zwei Fragen fundamental bleiben: Mit wem soll man sprechen und mit wem soll man sich identifizieren? Auch heute, im Jahr 2017, ist es nicht leicht, eine Antwort zu finden.

Einerseits kann die Existenz einer Gemeinschaft, der man angehört, den Aufbau eines Ich erleichtern. Andererseits erleben diese Menschen häufig Homophobie oder Transphobie. Diese Haltungen sind immer noch weit verbreitet. Erfahrungen dieser Art, auch in Form von unsichtbarer Gewalt, schafft eine kollektive Dimension, um gegen eine Stigmatisierung zu kämpfen. Die Gemeinschaftsbildung kann also eine zentrale Rolle spielen.

Caroline Dayer
Caroline Dayer, Expertin für Genderfragen und Gewaltprävention. twitter/Caroline Dayer

swissinfo.ch: Wie steht es um die Gruppe der LGBTIQ in der Schweiz, etwa im Vergleich zu den Nachbarländern Italien, Deutschland oder Frankreich?

C.D.: Juristisch hinkt die Schweiz den anderen Ländern hinterher, sei es in Bezug auf den Schutz der LGBTIQ-Personen, sei es auf der Ebene der Rechtsgleichheit.

Deutschland hat soeben in Rekordzeit die Ehe für homosexuelle Paare eingeführt. In der Schweiz gibt es nur die eingetragene Partnerschaft, die nicht wirklich mit der Ehe gleichgestellt und einzig Homosexuellen erlaubt ist. Dieser letzte Punkt ist problematisch: Viele Homosexuelle verzichten auf eine registrierte Partnerschaft, weil sie nicht jedes Mal, wenn sie ein Formular ausfüllen, zu einem Coming-out gezwungen werden wollen.

Die Schweiz macht jedoch in rechtlicher Hinsicht Fortschritte. Ab 1. Januar 2018 werden beispielsweise homosexuelle Paare ein Kind des Partners adoptieren können. Zudem gibt es momentan eine Diskussion, um die Anti-Rassismus-Strafnorm auszuweiten. Das heisst: Die Diskriminierung von Personen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität wird strafbar.  

«Die Familie kann ein Inferno sein, aber auch eine wichtige Stätte der Zuflucht.

swissinfo.ch: Sie haben von Gewalt und Diskriminierung in Bezug auf die LGBTIQ-Gemeinschaft gesprochen. Wie ist die Situation in der Schweiz?

C.D.: Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt sind im schulischen und beruflichen Bereich präsent, genauso wie auf der Strasse, in den sozialen Netzwerken und in der Familie.

Im Vergleich zu anderen Formen der Diskriminierung besteht die Besonderheit von Homophobie und Transphobie darin, dass sie in der eigenen Familie vorhanden sein können. Wenn junge Menschen keine anderen Schutzmechanismen haben, beispielsweise einen Freundeskreis, können sie in eine Situation extremer Verletzlichkeit geraten.

Diese Diskriminierungen, allenfalls in Verbindung mit einer gesellschaftlichen Isolation, führen dazu, dass die Suizidrate bei jungen LGBTIQ-Personen überdurchschnittlich hoch liegt.

swissinfo.ch:  Wie kann Homophobie und Transphobie innerhalb der Familie die Identitätsbildung beeinflussen?

C.D.: Wenn junge LGBTIQ-Menschen Erniedrigungen ausgesetzt sind, kann die Identitätsbildung sehr schwierig werden. Wenn wir junge Menschen fragen, warum sie nicht über ihre Zweifel in Hinsicht auf ihre sexuelle Orientierung oder ihre geschlechtliche Identität sprechen wollen, sagen sie sehr häufig, Angst davor zu haben, von der Familie ausgestossen zu werden. Viele Personen haben die Beziehungen zu ihren Eltern abgebrochen, weil sie sich abgelehnt fühlen. Oder weil sie ein Tabu gebrochen haben, indem sie das Thema ansprachen. Das kommt immer wieder vor. In den meisten Fällen werden im Übrigen die Eltern als letzte eingeweiht, eben weil die Angst so gross ist, als Schande für die Familie gesehen zu werden.

Doch man sollte nicht vergessen, dass in vielen Familien Gespräche und Dialoge durchaus möglich sind. Die Familie kann also ein Inferno sein, aber auch eine wichtige Stätte der Zuflucht. Um Vorurteile zu überwinden, ist es sicher wichtig, mit den Eltern zu sprechen. Gleichwohl ist es nötig, dass junge Menschen auch ausserhalb der Familie ein Schutznetz haben, um nicht in den Sog von Isolierung und Verletzlichkeit zu geraten.

«Man wird nicht sexistisch, homophob oder transphob geboren, sondern man wird dazu gemacht.»

Diese Diskriminierungen, allenfalls in Verbindung mit einer gesellschaftlichen Isolation, führen dazu, dass die Suizidrate bei jungen LGBTIQ-Personen überdurchschnittlich hoch liegt.

swissinfo.ch: Ist unsere Gesellschaft bereit, Liebe in ihrer universalen Form anzuerkennen, ohne geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung zu berücksichtigen?

C.D.: In einer idealen Welt wäre dies wohl so. Aber im Moment prägen diese Faktoren die Machtverhältnisse und Hierarchien. Junge Leute spüren, dass bestimmte Formen der Beziehungen anerkannter sind als andere.

Es ist sehr wichtig, über diese Themen zu sprechen, damit die Gesellschaft sich weiter entwickeln kann. Vor allem ist Präventionsarbeit in der Schule nötig. Die Kinder verstehen nicht, warum eine weisse und eine farbige Person oder zwei Personen desselben Geschlechts nicht heiraten können, wenn sie sich lieben. Oder anders gesagt: Man wird nicht sexistisch, homophob oder transphob geboren, sondern man wird dazu gemacht. Die gute Nachricht ist: Man kann Abhilfe schaffen. 

Caroline Dayer

Caroline Dayer wurde 1978 in Hérémence im Kanton Wallis geboren. Sie studierte Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Genf und promovierte über das Thema Diskriminierung und Gleichstellung. Sie unterrichtete und forschte 13 Jahre lang zu diesem Themenbereich. Zurzeit ist sie als Beauftrage des Kantons Genf für Fragen rund um Gewalt, Diskriminierung, Gender und Gleichstellung tätig. Sie ist Autorin von zwei Büchern zu Gewaltprävention und Sexismus.


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