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Mangel an Lehrpersonen: Quereinsteiger:innen als Übergangslösung

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Maurizio Audino bereitet den Deutschunterricht vor. swissinfo.ch

Der Mangel an Lehrer:innen ist ein altes Problem in der Schweiz. Dieses Jahr konnte es durch die Einstellung von Lehrpersonal ohne Lehrdiplom gelöst werden. swissinfo.ch hat einen Lehrer ohne pädagogische Ausbildung zu seinen Erfahrungen befragt.

Die Schülerinnen und Schüler nennen ihn Mauri. Sein voller Name ist Maurizio Audino. Er ist gut 40 Jahre alt, trägt einen Pferdeschwanz und ein Hemd mit koreanischem Kragen. Mauri unterrichtet in Münsingen, einer Kleinstadt mit 12’000 Einwohner:innen, rund zwanzig Minuten von Bern entfernt. An den Wänden des Klassenzimmers hängen Aufgaben für Gruppenaktivitäten, Klassenfotos, der Stundenplan und Informationen für Eltern.

 «Ich hatte schon immer eine Leidenschaft fürs Unterrichten», erzählt Audino, während die Schüler:innen in Zweiergruppen Aufgaben machen. «Nach meinem eigenen Schulabschluss habe ich verschiedene Berufspraktika absolviert und bin dann in der IT-Branche gelandet. Doch mein Wunsch, als Lehrer ins Klassenzimmer zurückzukehren, wurde immer stärker», sagt er.

2017 meldete sich Maurizio Audino für eine Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule Bern an (Zugangsvoraussetzungen siehe Kasten). Zur gleichen Zeit bewarb er sich um eine Teilzeitstelle an einer Schule. Er wurde dann mit einem Pensum von 20 Prozent eingestellt. Im ersten Jahr unterrichtete er Musik und Sport. «Ich spiele leidenschaftlich gerne Gitarre und habe früher die Jugendfussballmannschaften in Münsingen trainiert. So fiel es mir leicht, in die Rolle des Lehrers zu schlüpfen», erinnert sich Audino.

Zusätzliche Belastung

Maurizio Audino gehört zu den zahlreichen Personen in der Schweiz, die ihre ersten Berufserfahrungen ausserhalb des Schulbetriebs gesammelt haben und nun aber als Lehrer:innen arbeiten. Für die Bildungseinrichtungen sind sie ein echter Segen. Denn in vielen Kantonen der Deutschschweiz herrscht ein chronischer Lehrer:innenmangel.

Um freie Stellen zu besetzen, haben viele Schulen in diesem Schuljahr Personen ohne Lehrdiplom eingestellt. Im Kanton Zürich sind es rund 500 von insgesamt 18’000 Lehrpersonen. Im Kanton Bern sind es sogar 1’500 Lehrer:innen, was jeder zehnten Lehrperson entspricht. Diese Entwicklung wird von den Dachverbänden der Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz mit Sorge verfolgt. Denn sie befürchten eine Verschlechterung der Unterrichtsqualität.

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Wie fällt die bisherige Bilanz aus? Sind die Befürchtungen eingetreten? swissinfo.ch stellte diese Fragen Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), sowie Thomas Minder, Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz.

«Die meisten der Personen ohne Lehrdiplom, die im August mit dem Unterrichten begonnen haben, sind motiviert und geben sich Mühe», sagt Rösler. Sie ergänzt aber umgehend, dass all diejenigen Lehrer:innen, die zum ersten Mal vor eine Klasse stehen nur dank der Unterstützung von Lehrer:innen mit langjähriger Erfahrung in der Lage sind, die Erwartungen von Eltern und Kindern zu erfüllen.

Diesen Aspekt streicht auch Minder hervor. Er hält fest: «Die Qualität des Unterrichts ist derzeit nicht gefährdet. Es ist jedoch zu bedenken, dass die Begleitung von Berufsanfänger:innen den erfahrenen Lehrkräften Energie und Zeit raubt, die sie eigentlich für die Entwicklung der Schule, beispielsweise für Fragen der Digitalisierung, verwenden sollten.»

Problem betrifft alle OECD-Staaten

Sowohl Rösler als auch Minder vertreten die Meinung, dass die bisherigen Massnahmen das Problem nur vorübergehend lösen. In den Schulen der Gemeinden und des Kantons wurde die Zahl der Schüler:innen pro Klasse erhöht. Die Normwerte für die maximale Klassengrösse bewegen sich für alle Stufen in der Regel zwischen 23 und 25 Schüler:innen pro Klasse. Von den Lehrer:innen wurde verlangt, ihren Anstellungsgrad zu erhöhen, oder es wurden – wie erwähnt –  sogar Personen ohne Diplom eingestellt.

Langfristig sind Ihrer Meinung nach weitere Massnahmen erforderlich, um den Mangel an gut ausgebildetem Lehrpersonal zu beheben. Denn das Problem wird sich in Zukunft noch verschärfen, wie die kürzlich vom Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichten DatenExterner Link zeigen. In den nächsten zehn Jahren wird die Zahl der Primarschüler:innen um acht Prozent steigen, diejenigen der Schüler:innen der Sekundarstufe I um elf Prozent.

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Bis 2031 müssen daher 45’000 zusätzliche Grundschullehrer:innen und 26’000 zusätzliche Lehrer:innen für die Sekundarstufe I eingestellt werden. Dieser Bedarf kann teilweise durch die steigende Zahl an Studierenden an den Pädagogischen Hochschulen gedeckt werden. In der Tat erfreut sich der Lehrer:innenberuf in der Schweiz derzeit grosser Beliebtheit. Nach Angaben des BFS werden die Einschreibungen zwischen 2019 und 2029 voraussichtlich um fast 19 Prozent zunehmen.

Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das mit einem Mangel an Lehrkräften konfrontiert ist. Im Jahr 2018 gaben Schulleiter:innen im Rahmen einer PISA-StudieExterner Link an, dass in den OECD-StaatenExterner Link die Lernziele von rund 27 Prozent der Schüler:innen wegen eines Mangels an Lehrkräften nicht wie vorgesehen erreicht werden. Die Vereinten NationenExterner Link schätzen, dass weltweit mindestens 69 Millionen neue Lehrer:innen ausgebildet werden müssen, um das Ziel Nr. 4 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu erreichen.

In Europa fehlten zu Beginn des Schuljahres 2022/23 in Frankreich etwa 4000 Lehrkräfte, in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands, waren 4400 Stellen unbesetzt, in Österreich etwa 8600.  In England blieb die Zahl der Schüler:innen zwischen 2007 bis 2019 konstant, doch die Zahl der Lehrkräfte ging um sieben ProzentExterner Link zurück.

In Italien kündigte der Bildungs- und Erziehungsminister die Einstellung von fast 95’000 neuen Lehrkräften an, doch aufgrund des Mangels an Bewerber:innen wurden nur 38’000 Stellen besetzt. In Übersee ist die Situation nicht besser. Laut dem OECD-Bildungsexperten Éric Charbonnier sind die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien ebenfalls von diesem Phänomen betroffen, das zum Teil auch auf die sinkende Attraktivität des Lehrerberufs zurückzuführen ist.

Allievo e insegnante davanti a un PC
Musikunterricht: Maurizio Audino erklärt einem Schüler, wie man eine Audioaufnahme verbessert. swissinfo.ch

Den Beruf attraktiver machen

Der Lehrer:innenberuf hat in der Tat viel von der sozialen Anerkennung eingebüsst. Um die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schliessen, muss also der Beruf attraktiverExterner Link gemacht werden. «Diejenigen, die diesen Beruf ergreifen, haben oft wenig Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln», sagt Dagmar Rösler, «es müssen also berufliche Perspektiven geschaffen werden».

Thomas Minder schlägt in diesem Zusammenhang vor, vermehrt Lehrkräfte als «Teacher leaderExterner Link» zu schulen, welche die  gemeinschaftliche Führung einer Schule übernehmen.  «Eine Lehrkraft übernimmt innerhalb des Lehrkörpers die Verantwortung für ein bestimmtes Fach, beispielsweise Informatik, Deutsch, Geschichte, oder leitet eine Gruppe von Lehrkräften und fördert gemeinsam mit der Schulleitung die Qualität des Lernens und Lehrens.»

Thomas Minder ist selbst als Direktor der Primarschule in Eschlikon (Thurgau) tätig. Er kritisiert die Politik, welche seiner Meinung nach nicht in langfristigen Kategorien denkt, etwa bei der Zulassung zur Ausbildung (siehe Kasten): «Die Hürde für die Zulassung zu den Pädagogischen Hochschulen sollte erhöht, und nicht, wie von einigen Politiker:innen vorgeschlagen, gesenkt werden». Minder fügt an: «Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, aber nur die besten sollten in die Klassenzimmer gelassen werden. Das lehrt uns Finnland, ein Land, in dem der Beruf noch immer ein hohes Ansehen in der Gesellschaft geniesst.»

Zurück zu Maurizio Audino. Er verfügt über einen Bachelor-Abschluss und hat die Masterkurse in Italienisch und Deutsch abgeschlossen. Auch wenn er folglich noch kein vollständiges Lehrdiplom hat, wird er von seiner Klasse sehr geschätzt. Das lässt sich sofort beim Eintreten ins Klassenzimmer spüren, in dem eine entspannte und lernfördernde Atmosphäre herrscht.

Mit der Zeit hat er sich auch die Wertschätzung seiner Kolleg:innen erworben. «Anfangs schien ich als Lehrer zweiter Klasse betrachtet zu werden», sagt Audino, «ich habe aber das Vertrauen der Schulleitung vor Ort gewonnen, die mir immer mehr Klassen und Stunden anvertraut hat.»

In vier Jahren ist sein Arbeitspensum von 20 auf 90 Prozent aufgestockt worden. Dieser hohe Prozentsatz liess sich nur schwer mit dem Familienleben und der weitergehenden Ausbildung vereinbaren. Und so hat er in diesem Jahr seine eigene Schule eröffnet, drei Minuten von seinem Zuhause entfernt. Jetzt ist er nicht nur Lehrer, sondern auch Putzmann, Direktor und Sozialarbeiter. Für Maurizio Audino geht das in Ordnung.

Nationalrat Simon Stadler von der Mitte-Fraktion hat eine MotionExterner Link eingereicht, in der er den Bundesrat auffordert, Artikel 24 des Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetzes (HFKG) so zu ändern, dass Absolvent:innen einer Berufsmatura prüfungsfrei zur Primarlehrer:innenausbildung an den Pädagogischen Hochschulen zugelassen werden. Die Zürcher Bildungsdirektion hat KriterienExterner Link festgelegt, damit engagierte und geeignete Personen ohne anerkanntes Lehrdiplom, die an Schulen im Kanton bereits unterrichten, zu einer Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule (PH) Zürich zugelassen werden können.

An der PH Graubünden in ChurExterner Link sind die Zulassungskriterien für den Bachelorstudiengang Primarstufe: Gymnasiale Matur, Fachmaturität Pädagogik, Hochschuldiplom, Fachmittelschule, Berufsmaturität, Berufslehre und 2 Jahre Berufserfahrung sowie (in den drei letzten Fällen) das Absolvieren eines Vorkurses.

Auf der Website der Konferenz der kantonalen ErziehungsdirektorenExterner Link werden die verschiedenen Möglichkeiten der Ausbildungsgänge vorgestellt (Lehrerin/Lehrer werden). Für die Zulassung zum Studium wird im Regelfall eine gymnasiale Maturität oder eine Fachmaturität für das Berufsfeld Pädagogik vorausgesetzt. Details sind auf der Webseite aufgelistet.

Die Attraktivität des Lehrer:innenberufs

Die Studie «Teachers and School Leaders as Lifelong Learners»Externer Link zeigt auf, dass die Attraktivität des Lehrer:innenberufs durch Gehaltserhöhungen und bessere Karriereaussichten gesteigert werden muss, um eine ausreichende Zahl von Lehrer:innen zu gewährleisten. 260’000 Lehrer:innen und 15’000 Schulleiter:innen aus 48 Ländern nahmen an der Studie teil.

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Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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