Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt es auch bei der Gesundheit
Eine Schweizer Studie zeigt die gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern auf, die zum Teil auf soziale Faktoren zurückzuführen sind. Werde der Einfluss des Geschlechts besser berücksichtigt, sei das ein Schlüssel zur Verbesserung der Pflegequalität, so die Untersuchung.
Frauen haben nach einem Herzinfarkt schlechtere Überlebenschancen als Männer; Männer begehen häufiger Selbstmord, wenn sie depressiv sind. Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass Frauen und Männer mit unterschiedlichen gesundheitlichen Realitäten konfrontiert sein können.
Obschon dies schon vor Jahrzehnten erkannt wurde, hat die Medizin erst vor kurzem damit begonnen, die Bedeutung des Geschlechts zu erforschen, inklusive soziale Verhaltensweisen jenseits der biologischen Unterschiede. Mit der Annahme, dass Ungleichheiten oft auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen sind.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind dabei am besten dokumentiert. Sie galten lange als männliche Pathologien und wurden hauptsächlich bei Männern untersucht. Das hat jedoch auch mit Stereotypen von Seiten der Ärzteschaft zu tun: Frauen werden etwa seltener eingeladen, einen Spezialisten zu konsultieren oder sich einem Belastungstest zu unterziehen.
«Brustschmerzen, die mit einem Herzinfarkt einhergehen, werden bei Frauen anders interpretiert, als hingen sie zum Beispiel mit Angstzuständen zusammen», erklärt Carole ClairExterner Link, Professorin und Assistenzärztin am Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und Public Health (Unisanté) in Lausanne und Co-Leiterin der Abteilung Medizin und Gender.
Bei Depressionen, die unter Frauen weiter verbreitet sind, wurde ein umgekehrter Gender Bias zum Nachteil der Männer beobachtet. All diese Faktoren können zu einer zu späten Erkennung oder Fehldiagnose führen.
Der Ansatz «Medizin und Gender» hat seine Wurzeln in den 1970er Jahren und der feministischen Bewegung der zweiten Welle, berichtet die Revue Médicale SuisseExterner Link. Zu dieser Zeit begann man, die Stellung der Frauen in der Ärzteschaft zu kritisieren. In den angelsächsischen Ländern wurden Gesundheitszentren von und für Frauen eingerichtet.
Die Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien wird ab Ende der 1980er Jahre zum Thema, zunächst in den USA. Im Zuge dieser Mobilisierung wird in den 1990er Jahren die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Gender in die Medizin integriert.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versucht seit Anfang der 2000er Jahre, diese Perspektive in ihren Aktivitäten zu berücksichtigen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind seit 2006 dazu eingeladen.
In der Schweiz verfasste das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Mitte der 2000er Jahre seinen ersten Bericht zum Thema. Die Revue Médicale Suisse bezeichnete dieses Feld 2010 allerdings noch als «aufstrebend».
Heute sind die fortschrittlichsten Forschungsteams auf diesem Gebiet vor allem in Europa und Nordamerika zu finden. In der Schweiz ist die Fachstelle «Medizin und Gender» in Lausanne eine Referenz.
Längere Lebensdauer, geringere Lebensqualität
Carole Clair und Joëlle SchwarzExterner Link, Doktorin in Epidemiologie, Soziologin und Leiterin der Fachstelle «Medizin und Gender», haben gemeinsam mit dem Bundesamt für Statistik (BFS) eine PublikationExterner Link verfasst, die im Dezember veröffentlicht wurde. Ihre Arbeit analysiert die Ergebnisse des aktuellen Swiss Health SurveyExterner Link 2017 (ESS) durch eine Gender-Linse.
Sie besagt, dass Frauen in der Schweiz im Durchschnitt vier Jahre länger leben als Männer, dass aber ihre allgemeinen GesundheitsindikatorenExterner Link schlechter sind.
Mehr Frauen als Männer leben mit mindestens einer chronischen Krankheit oder einem langfristigen Gesundheitsproblem, berichten von allgemeinem Energiemangel, Schlafstörungen oder psychischen Problemen. Ihre Lebenserwartung liegt bei 71,7 Jahren, im Vergleich zu 70,7 Jahren für Männer.
Der Abstand in der Lebenserwartung selbst wird tendenziell von Jahr zu Jahr kleiner. Dieses Phänomen, das in vielen Ländern zu beobachten ist, ist weitgehend das Ergebnis einer Annäherung von «männlichen» und «weiblichen» Lebensstilen.
Rauchen ist ein Beispiel für ein geschlechtsspezifisches Verhalten, das später von Frauen übernommen wurde. Seit 1980 ist die Prävalenz von Lungenkrebs bei Schweizer Frauen um 94% gestiegen, während sie bei Männern um 36% gesunken ist.
Ungleich im Angesicht des Schmerzes
Frauen berichten häufiger über chronische Schmerzen und nehmen häufiger Schmerzmittel ein. Die SSE zeigt dies, und die Daten zur Schmerzempfindung in der Europäischen UnionExterner Link weisen in die gleiche Richtung. Sie zeigt, dass mehr Frauen als Männer über mässige bis starke Schmerzen berichten.
Aus biologischer Sicht sind manche Schmerzmittel für Frauen möglicherweise weniger wirksam. Zusätzlich zur Problematik der klinischen Studien an männlichen Gruppen wurde kürzlich gezeigt, dass verschiedene Kreisläufe zur Schmerzerzeugung und -kontrolle aktiviert werden können.
Ein Faktor von vielen
«Das Geschlecht ist ein sozialer Faktor neben anderen, wie Ethnizität, sozioökonomischer Status oder Bildungsniveau», sagt die Soziologin Joëlle Schwarz.
Und auch die Tatsache, ob man erwerbstätig ist oder nicht, scheint einen Einfluss zu haben. Vor allem die Gesundheit von Männern scheint durch die Abwesenheit von Arbeit stärker beeinträchtigt zu werden: Die Studie stellt fest, dass Schmerzen oder bestimmte körperliche Beschwerden bei inaktiven oder arbeitslosen Männern das gleiche Ausmass erreichen können wie bei Frauen.
Aber der Erwerbsstatus lässt sich kaum von den gesellschaftlichen Geschlechternormen trennen. «Dieses Phänomen könnte durch den erhöhten sozialen Druck in Bezug auf die männliche Rolle des Hauptverdieners erklärt werden, wobei die männliche Identität viel stärker als bei Frauen über die berufliche Tätigkeit definiert wird», heisst es in der Studie.
Das Paradoxon des Schlankheitsideals
Eine weitere Ungleichheit betrifft das Gewicht. In der Schweiz wie in der Europäischen UnionExterner Link sind mehr Männer als Frauen übergewichtig oder fettleibig. Das Gewicht kann mit genetischen Veranlagungen zusammenhängen, ist aber auch auf körperliche Aktivität, Ernährung und soziales Verhalten zurückzuführen.
Frauen achten generell mehr auf ihre ErnährungExterner Link und sind unzufriedener mit ihrem Gewicht als Männer. Diese Diskrepanz könnte durch das herrschende Schlankheitsideal für Frauen resultieren, bemerkt Joëlle Schwarz.
«Man könnte sagen, dass es sie vor Übergewicht oder Fettleibigkeit schützt, aber schädliche Auswirkungen in Form von Unwohlsein hat (…) und, im Extremfall Essstörungen auslösen kann, die bei Frauen viel häufiger sind», analysiert die Expertin.
Verbesserung der Patientenversorgung
Das Problem ist bei weitem nicht auf die in dieser Studie vorgestellten Indikatoren beschränkt. «Wer genau hinschaut, kann überall Unterschiede erkennen», sagt Carole Clair.
Eine Zweituntersuchung von Daten nach Geschlecht führte zur Entdeckung, dass einige Chemotherapien bei Frauen mehr Nebenwirkungen verursachten oder dass sie bei einer Nierentransplantation ein erhöhtes Risiko für eine Organabstossung hatten, veranschaulicht die Professorin. «Der andere Unterschied besteht darin, dass Frauen viel mehr Organe spenden, aber weniger häufig ein Organ erhalten.»
Osteoporose, eine Krankheit, die hauptsächlich Frauen betrifft, ist einer der wenigen Bereiche, in denen die Forschung hauptsächlich Frauen einbezogen hat und wo auch die Prognose für Männer schlechter ist, fügt die Ärztin hinzu.
Carole Clair und Joëlle Schwarz arbeiten seit März 2020 an der Entwicklung eines Index zur Messung von GenderExterner Link. Das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Projekt dient der Gesundheitsforschung in der Schweiz. Das Ziel: «Ein besseres Verständnis zu erlangen, um korrigierbare Ungleichheiten korrigieren zu können, mit dem Ziel der Verbesserung der Patientenversorgung.»
Die geschlechtsspezifische Analyse ergab, dass Männer häufiger an Covid-19 starben als Frauen. Allerdings wurden mehr Frauen mit dem Virus infiziert, weil sie die Mehrheit des Gesundheitspersonals ausmachen, oft die Pflege übernehmen und damit exponierter sind.
Mehrere internationale Organisationen gehen davon aus, dass die Covid-19-Pandemie die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern stark verschärfen wird, nicht nur in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, sondern auch in medizinischer Hinsicht, insbesondere in den Entwicklungsländern.
Für die WHOExterner Link ist eine der grössten Risiken die Unterbrechung der mütterlichen, sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdienste, was zu Tausenden von Todesfällen sowie Millionen von ungewollten Schwangerschaften und unsicheren Abtreibungen führen könnte.
Darüber hinaus berichteten laut einer UmfrageExterner Link, die von Women Deliver und Focus 2030 im Sommer 2020 in 17 Ländern durchgeführt wurde, mehr Frauen als Männer über emotionalen Stress und psychische Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit der Pandemie (durchschnittlich 37 % der befragten Frauen im Vergleich zu 27 % der Männer).
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