Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Mehrsprachigkeit als Identitätsstifterin

"Forza ragazzi": Italienisch trägt zur Schweizer Identiät bei, auch in der Deutschschweiz. Ex-press

Menschen müssen eine Sprache nicht perfekt beherrschen, um miteinander kommunizieren zu können. Dies ist einer der Schlüsse, den die Autoren einer grossangelegten Studie zur Mehrsprachigkeit in der Schweiz ziehen.

Sprachen sind ein lebendiges Kulturgut und gehören zur Schweiz wie die Berge, die Banken und die Schokolade.

Der Sprachen-Pluralismus sei aber nicht nur eine Ressource zur gemeinsamen Verständigung, sondern auch ein wesentlicher Kitt zum Zusammenhalt untereinander, kommen Sprachforscherinnen und -forscher im Nationalen Forschungsprogramm «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz» (NFP 56) zum Schluss.

Mehrsprachigkeit sei keine Besonderheit der Schweiz. Trotzdem stellt das Land laut den Autoren aber einen Spezialfall dar. Dies deshalb, weil mehrere Sprachen als Landessprachen gelten würden, obwohl die Grösse der jeweiligen Sprachgruppen stark differieren.

Diese Ausnahmestellung zeige, dass die sprachliche Berücksichtigung von Minderheiten nicht nur zum Bild der Schweiz gehöre, sondern ein Teil ihrer Kultur sei.

Migration und Globalisierung stellten das Land aber vor neue Herausforderungen. Eine davon: In der Schweiz sprechen mehr Menschen Spanisch und Portugiesisch als Rätoromanisch.

Mehrsprachigkeit als Kitt

«Mehrsprachigkeit wird als Ressource betrachtet, nicht als Problem», sagte Sandro Cattacin von der Universität Genf gegenüber swissinfo.ch. Er leitete ein Team, das Gruppen untersuchte, deren Mitglieder mehrere Sprachen sprechen, darunter die Nationalmannschaft der U18-Fussballer, die Armee und die Bundesverwaltung.

Die verschiedenen Sprachen dienten zur Bildung einer Gruppenidentität, lautete eine Erkenntnis. «In der Armee verwendeten Instruktoren die verschiedenen Sprachen dazu, die Soldaten aus den einzelnen Sprachregionen zu integrieren. Einer Erklärung auf Deutsch beispielsweise lässt der Vorgesetzte eine Zusammenfassung auf Französisch folgen, um die Westschweizer ins Bild zu setzen.»

Wenn der Instruktor am Schluss die Gruppe mit der Anfeuerung «Forza ragazzi!› entlasse, komme dem Italienischen motivierender Charakter zu. In Cattacins Worten: «Mehrsprachigkeit bildet Identität durch Unterschiede, nicht durch Gleichmacherei.»

Wie lernt man eine Sprache?

Schweizerinnen und Schweizer haben den Ruf, sprachgewandt zu sein. Tatsächlich fanden die Forscher heraus, dass jede und jeder im Schnitt zwei Fremdsprachen spricht. Doch so etwas wie «Sprachbegabung» existiere nicht, sagte Walter Haas von der Universität Freiburg, der den Lenkungsausschuss des NFP 56 präsidierte. «Alle können eine Sprache lernen. Die Schweizer lernen sie, weil sie müssen», erklärte er.

Es gibt gute Neuigkeiten für jene, die ihre Schulstunden damit verbrachten, Grammatik zu büffeln und am Ende keinen geraden Satz in der gelernten Sprache zustande brachten, wenn sie mit einem Muttersprachler konfrontiert waren. Die Untersuchung spricht nämlich von einer markanten Verschiebung der Lehrmethoden.

«Wir haben gelernt, dass Leute miteinander kommunizieren können, auch wenn sie die Sprache nicht perfekt beherrschen», so Haas. «Natürlich haben die Schulen die Verpflichtung, die Schülerinnen und Schüler korrekt auszubilden, doch es ist alles eine Frage des Masses.»

Italienisch auf die Schnelle

Ein Projekt, das von Bruno Moretti von der Universität Bern entwickelt wurde, packt den Stier bei den Hörnern. Weil Englisch immer beliebter und wichtiger wird, kommt Italienisch in Schweizer Schulen immer mehr unter die Räder.

Moretti hat daher ein Intensivprogramm für Kinder von 12 und 13 Jahren entwickelt, das diese befähigt, innerhalb von einer Woche auf Italienisch kommunizieren zu können. Dass Fehler passieren, ist nicht tragisch. Hauptsache, sie können sich in Alltags-Situationen ausdrücken.

Der Gedanke dahinter ist, dass es besser ist, wenn viele Schweizer eine Sprache nur ein wenig sprechen, als dass nur ein paar wenige diese perfekt beherrschen.

Der erreichte Standard solle etwa jenem entsprechen, den Primarschüler nach 18 Monaten Englisch-Unterricht erreichen würden, sagte Moretti gegenüber swissinfo.ch.

Indem nicht auf totale Sprachbeherrschung Wert gelegt wird, konnten viele «schwächere» Schülerinnen und Schüler in Pilotprojekten am Ende des Programms auf Italienisch kommunizieren. Die Tatsache, nach einer Woche etwas sagen zu können, das verstanden werde, sei Motivation genug, sagte Moretti.

Die Methode, die als Antwort auf die schwindende Bedeutung des Italienischen in der Schweiz entwickelt wurde, kann auch auf andere Sprachen übertragen werden. Derzeit wird die Möglichkeit geprüft, sie für die Vermittlung der vierten Schweizer Landessprache, dem Rätoromanisch, anzupassen.

Plädoyer für praktisches Lernen

Doch nicht jeder – auch unter Schweizerinnen und Schweizern – will andere Sprachen lernen.

«Wenn jemand nicht lernen will, lernt er auch nicht», sagte Cattacin. «Es ist vollkommen sinnlos, eine Politik zu verfolgen, die fordert, dass Menschen andere Landessprachen kennen sollen. Wir müssen in der Schweiz die Menschen in Projekten zusammenbringen und ihnen die Möglichkeit geben, zusammen zu lernen, indem sie gemeinsam etwas unternehmen.»

Während die verschiedenen Forschungsprojekte dabei helfen, eine Basis zur Entwicklung neuer Richtlinien zu schaffen, wird trotzdem niemand behaupten, dies seien bereits definitive Lösungen.

«Die sprachlichen Bedürfnisse und Ideologien der Gesellschaft ändern sich konstant, und mit ihnen auch die Sprache», erklärte Haas in seiner Präsentation des Schlussberichts.

«Sprache und sprachliche Beziehungen zu untersuchen, ist ein langfristiges Projekt, und unsere Resultate sind nur vorläufiger Natur.»

Am Nationalen Forschungsprogramm «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz» (NFP 56) hatten seit 2005 rund 200 Forscherinnen und Forscher mitgearbeitet.

In 26 Projekten untersuchten sie die Grundlagen zur Erhaltung, Förderung und Nutzung der Sprachenvielfalt in der Schweiz.

In ihrem Schlussbericht – in der englischen Version lautet der Titel «Do You Speak Swiss?» – beleuchten die Expertinnen und Experten die komplexe Sprachensituation in der Schweiz.

Laut Verfassung gibt es die vier Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

Daneben spricht die zugezogene ausländische Wohnbevölkerung eine Vielzahl weiterer Sprachen aus allen Teilen der Erde (siehe Box unten).

Landessprachen
Deutsch 63.7%
Französisch 20.4%
Italienisch 6.5%
Rätoromanisch 0.5%

Andere Sprachen
Serbo-Kroatisch 1.4%
Albanisch 1.3%
Portugiesisch 1.2%
Spanisch 1.1%
Englisch 1.0%
Türkisch 0.6%
Tamilisch 0.3%
Arabisch 0.2%

(Quelle: Volkszählung 2000)

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub und Renat Künzi)

Meistgelesen
Swiss Abroad

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft