Ein Paradox – oder wie die junge Schweiz Einwanderung sieht
Siebzehnjährige in der Schweiz sind weder verträumter als ihre Eltern noch offener gegenüber Fremden. Ist die kommende Generation bereit, eine Zukunft mit den Migranten aufzubauen, die momentan nach Europa kommen? In der Auswertung der breit angelegten Befragung "Ich und meine Schweiz" zeigen die Autoren Wege zu einer erfolgreichen Integration von Menschen aus anderen Kulturen auf.
«Ich wurde gefragt, ob meine Mutter Hausfrau ist und mein Vater Hauswart?» Die 17-jährige Marta Zaragozá Navarro war schockiert ob der Bemerkungen, mit denen sie bei ihrer Ankunft in der Schweiz konfrontiert war. Doch trotz der zahlreichen gehörten Vorurteile und Klischees ist Marta heute gut integriert. «Man hat mir etwa gesagt, dass ich aufgrund meiner guten Noten in der Schule nicht Spanierin sein könne!»
Aufgrund ihrer Erfahrungen ist Marta Zaragozá Navarro überzeugt, dass Integration in erster Linie durch Dialog erfolge. Wichtig seien aber auch bessere Kenntnisse der Anderen. «Man muss den Austausch zwischen Schweizern und Ausländern stärken, etwa durch Sport», schlägt sie vor.
«Ein Spiegel des aktuellen politischen Diskurses»
Marta hat ihre Geschichte und Erfahrungen an der Konferenz der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) erzählt, die Mitte November in Bern stattfand. Thema waren dort die Resultate der nationalen Erhebung «Ich und meine Schweiz». Diese spiegelt die Meinungen und Stimmungen der 17-jährigen Schweizerinnen und Schweizer zu verschiedenen aktuellen Themen (siehe Box).
In einer Zeit, in der Europa in einer der grössten Migrationsbewegungen der Geschichte steckt, geben die befragten Jungen die Einwanderung als wichtigstes Thema an. Einer von fünf Jugendlichen glaubt, dass Migration das Hauptproblem für die Schweiz von heute darstelle.
Politologin Sarah Bütikofer, Mitglied des dreiköpfigen Autorenteams des Schlussberichts, ist von diesem Ergebnis nicht überrascht. «Die Anliegen junger Menschen unterscheiden sich kaum von jenen der Älteren – es ist der Spiegel des aktuellen politischen Diskurses», sagt die Politologin der Universität Zürich.
Jung, aber nicht idealistisch
Eine Generation, die kaum von einer egalitären Gesellschaft oder der Revolution träume, sondern sich vielmehr durch Nüchternheit, Pragmatismus und Berechenbarkeit charakterisiere: So lautet die Beschreibung des Autorenteams.
«Es handelt sich um eine Generation, die im Vergleich zu den Eltern stärker international ausgerichtet, aber nicht offener ist», fasst Bütikofer zusammen. Politisch sei die Schweizer Jugend auch nicht mehr links situiert als die übrigen Bevölkerungsgruppen. Laut Studie tendieren jene Jungen, die sich selber politisch verorten, mehrheitlich zu einer Position in der Mitte des Spektrums.
Die Ansichten der Jungen über die Einwanderung schwanken zwischen Öffnung und Abschliessung. 60% der befragten Siebzehnjährigen schätzen die Migranten als positiven Faktor für die Wirtschaft ein. Auch trügen sie zur Entwicklung der Schweizer Gesellschaft bei. Aber immerhin zieht es eine von sechs jungen Personen vor, dass die Schweiz gebürtigen Schweizer Staatsangehörigen bessere Chancen einräumt als Zuwanderern aus dem Ausland.
Die Jungen machen weniger als die Erwachsenen die Verbindung zwischen Einwanderung und Kriminalität sowie zwischen Einwanderung und Diskriminierung. Dennoch geht für 42% der 17-Jährigen Immigration auch mit einem Anstieg der Kriminalität einher.
«Es ist wichtig, die Debatte nicht auf der emotionellen Ebene zu führen, sondern Fakten zur Immigration zu präsentieren.» Sarah Bütikofer
Fast drei Viertel (73%) wünschen, dass sich Schweizerinnen und Schweizer frei in Ländern der EU niederlassen können. Handkehrum sprechen sich 77% gegen einen Beitritt der Schweiz zur EU aus.
Für Pierre Maudet, den Präsidenten der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen, ist dies eine paradoxe Haltung. «Sie befürworten die Öffnung, weil sie selbst von einer solchen profitieren können. Sie sind aber eher verschlossen, wenn es darum geht, Öffnung in umgekehrter Richtung zu konkretisieren.»
Einbürgerung als Integrationsfaktor
Wie sie aber auch immer dazu stehen: Es sind die Jungen von heute, welche die Herausforderung Migration annehmen werden müssen. «Die Frage lautet nur, wie sie dies tun werden», sagt Maudet.
Ziel der nationalen Konferenz der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) war es, alle Akteure zu versammeln und praktische Handlungsoptionen zu erarbeiten, die sich auf die Studienergebnisse stützen.
Eine Arbeitsgruppe dachte über Massnahmen nach, wie die Integration verbessert werden könnte. «Man sollte die Einbürgerung jener Personen erleichtern, die sich als Schweizer fühlen, denn heute sind die Hürden dafür zu hoch», sagte Danna Gauthier als Vertreterin der Jungen. Ihre Meinung steht aber im Gegensatz zur Mehrheit ihrer Altersgruppe. Diese wünschen sich nämlich dieselben Schranken zum Erwerb der Staatsbürgerschaft wie die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung. Dieser Haltung wiederum steht das Ergebnis einer neuen Studie entgegen. Darin kamen Forschende der Universitäten Zürich, Stanford (USA) und Mannheim (Deutschland) zum Schluss, dass sich Einbürgerungen positiv auf die Integration auswirken. Die Studie wurde auch vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt.
«Ich und meine Schweiz»
Die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) nahm den Puls jener Jungen , die bei den Eidgenössischen Wahlen 2015 erstmals Wählen konnten. Die Universität Bern wurde 2014 beauftragt, 17-Jährige aus der ganzen Schweiz zu verschiedenen aktuellen, gesellschaftspolitischen Themen zu befragen.
An der Befragung nahmen 1990 Jugendliche teil, was zwei Dritteln der Angefragten entspricht.
Die Resultate sind in der Studie «Ich und meine Schweiz» zusammengefasst. Sie ist in vier Unterkapitel unterteilt. Diese sind: «Politische Partizipation und soziales Engagement», «Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie», «Globalisierung, Migration und Minderheiten» sowie «Die Schule muss auch eine Lebensschule sein».
Die Untersuchung ist nicht nur Grundlage für die Diskussionen innerhalb der EKKJ, sondern wurden auch an der Konferenz des Gremiums mit Akteuren aller involvierter Gruppen diskutiert. Zudem wurde die Studie an alle Mitglieder des neugewählten Schweizer Parlaments versandt.
(Quelle: EKKJ)
Fakten statt Emotionen
«Der Fremde ist oft jener, den wir nicht kennen», sagte ein Diskussionsteilnehmer. Ein Ansatz, der von den anderen in der Runde geteilt wurde. Sie schlugen Projekte zum besseren Verständnis der anderen vor. Dialog und Austausch stünden im Zentrum der Problematik, lautete der Konsens. Angestossen wurde auch eine Weiterentwicklung der Staatsbürgerkunde im Schulunterricht.
Romain Geiser, Jugendkoordinator bei der Menschenrechts-Organisation Amnesty International, dachte speziell an ein Internetportal des Bundes, das Zugang zu neutralen und unabhängigen Informationen bieten solle. «Verlässliche Daten als Antwort auf die politischen Botschaften, die an die Angst appellieren», lautet Geiser’s Formel.
Information ist auch für die Politologin Sarah Bütikofer Schlüsselfaktor zur Integration. «Es ist wichtig, die Debatte nicht auf der emotionellen Ebene zu führen, sondern Fakten zur Immigration zu präsentieren.»
«Ohne Partizipation keine Integration»
Basierend auf den Ergebnissen der Studie schlägt die Kommission verschiedene Massnahmen zur Erleichterung der Integration vor. Sie hatte notabene bereits 2002 das aktive und passive Wahlrecht für Ausländer gefordert. «Es gibt keine Integration ohne Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben», hält das Gremium fest.
Das im Wissen, dass sich 50% der befragten Jungen gegen das Wahlrecht für ausländische Bürger ausgesprochen haben. Um in diesem Spagat die Wünsche nach Öffnung zu stärken, plädiert die Kommission für einen Ausbau von Austauschprogrammen auf allen Stufen der schulischen Bildung.
Um Chancengleichheit als oberstes Ziel zu gewährleisten, propagiert die EKKJ für Jugendliche in Problemsituationen Massnahmen zum Übergang sowie solche zur besseren Unterstützung der Ausbildung. Um letztlich den gegenseitigen Respekt sicherzustellen, regt das Gremium ein Gesetz gegen Diskriminierung an.
Der Ball liegt jetzt bei der Politik, denn die Kommission hat die Resultate der Studie den Mitgliedern des im Oktober neu bestellten Schweizer Parlaments verschickt. Damit verbunden war der Appell, sich in der Legislatur 2016-2019 für die Sache der Kinder und Jugendlichen in diesem Land zu engagieren.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch