«Mit den Portugiesen das grosse Los gezogen»
In der Schweiz leben über 230'000 Portugiesen – dank Krise werden es immer mehr. Immigrations-Expertin Rosita Fibbi beschreibt sie für swissinfo.ch: "Sie brauchen wenig, verfügen aber über viel Sitzleder."
Rosita Fibbi, italienischen Ursprungs, ist Professorin an der Universität Lausanne. Seit dreissig Jahren in der Schweiz, nimmt sie teil am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien der Universität Neuenburg: Ein Lebenslauf, der sie befähigt, das komplexe Phänomen der Einwanderung besser zu verstehen.
2010 hat sie eine Studie über die Portugiesen in der Schweiz koordiniert. In Auftrag gegeben worden war diese von den Behörden. Grund: Sie schätzten die Portugiesen als «unbekannt und schwierig zu integrieren» ein.
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swissinfo.ch: Die Portugiesen machen 12% der Ausländer in der Schweiz aus. Das entspricht etwa der drittgrössten Ausländergruppe. Warum glaubt man, sie seien «schlecht bekannt»?
Rosita Fibbi: Über die Portugiesen weiss man wenig, weil sie sich während vielen Jahren wie richtige Gastarbeiter verhalten haben. Also als Arbeitskräfte, die zur Arbeit hierher geholt werden, und nachher wieder nach Hause zurückkehren.
swissinfo.ch: 2008 zählte man 196’000 Portugiesen, heute sind es 234’000, also ein Fünftel mehr. Wie ist das zu erklären?
R. F. : Die Portugiesen sind zahlreich und seit den 80er-Jahren hier ansässig. Mit der Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz hat sich die Situation verändert. Zwei Nationen vor allem haben dies ausgenützt – die Portugiesen und die Deutschen.
Gegenüber anderen Nationen, zum Beispiel den Türken und Leuten aus den Republiken des ehemaligen Jugoslawien, entscheiden sich die Portugiesen viel weniger dazu, Schweizer zu werden. Als EU-Bürger profitieren sie von einem Status, der besser nicht sein könnte. So waren sie lange Zeit an einer Einbürgerung kaum interessiert. Doch das ändert sich, vor allem bei der zweiten Generation.
In der Schweiz niedergelassene Bevölkerung (Stand 31. August 2012)
Italiener: 292’040
Portugiesen: 234’074
Spanier: 68’199
Griechen: 8075
Immigration zwischen Januar und August 2012
Portugiesen: 12’345
Italiener: 7822
Spanier: 3965
Griechen: 928
Einbürgerungen (Stand Oktober 2012)
Italiener: 490 (-8,4% gegenüber Oktober 2011)
Deutsche: 300 (-17,4%)
Serben: 176 (-58,9%)
Türken: 145 (-27,5%)
Portugiesen: 135 (-31,1%)
Ausländer in der Schweiz (Stand Oktober 2012)
1’819’064 (+2,9% gegenüber Oktober 2011)
Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS)
swissinfo.ch: Dürfte auch die Wirtschaftskrise in Portugal ein Grund dafür sein?
R. F. : Sicher. Aber die Zunahme teilt sich auf in eine registrierte und eine nicht eingetragene. Es gibt Leute, die in die Schweiz kommen für eine Arbeit. Sie können bis drei Monate hier bleiben, ohne sich bei den Behörden melden zu müssen. Das sind die Krisenzeichen.
swissinfo.ch: Hat sich das Profil des portugiesischen Einwanderers gegenüber früher gewandelt?
R. F. : Kaum. Heute gibt es aber Leute, die nach Portugal zurück gekehrt waren und jetzt von neuem in die Schweiz kommen. Es existiert auch das Phänomen der Hochqualifizierten. Diese sind aber statistisch schlecht erfassbar.
swissinfo.ch: Ein im November in Zürich publizierte Studie zeigt, dass die Portugiesen hier schlecht qualifiziert sind, kaum Deutschkurse besuchen und «weniger Chancen für die Integration» haben. Stimmt das?
R. F. : Dem sind auch wir nachgegangen. Die Sprachenfrage stellt sich in der Deutschschweiz mehr als in der Romandie, wo die meisten Portugiesen leben. Ich glaube, das Problem liegt weniger im Erlernen der Sprache als im Umstand, dass in der Deutschschweiz zwar Deutsch gelernt, aber Schweizerdeutsch gesprochen wird.
swissinfo.ch: Im Walliser Dorf Täsch besteht mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus Portugiesen. Die Behörden beklagen sich dort, sie hätten Mühe, portugiesischen Eltern das Schweizer Schulsystem zu erklären. Weshalb ist das so?
R. F. : Es ist nicht so, dass sich Portugiesen nicht integrieren möchten. Aber sie wehren sich gegen die Schweizer Art der Integration, die über Schulung und Bildung läuft. Integration heisst für einen Portugiesen, pünktlich und seriös bei der Arbeit zu sein.
Es wäre deshalb wichtig, dass die zweite Generation, die ja bereits das Schweizer Bildungssystem kennt, zur ersten Generation zurückfindet, um dieses Problem zur Sprache zu bringen. Und auch den Umstand, dass sich die Arbeitswelt zur Zeit stark ändert. In der Regel hinterfragen Portugiesen den Wert beruflicher Weiterbildung. Denn sie sind der Auffassung, dass man seinen Beruf am Arbeitsplatz selbst lernt, indem man den anderen zuschaut… (lacht!)
Doktorat in Politischen Wissenschaften. Sie studierte in Rom, Zürich und Genf. Als Gastprofessorin lehrt sie an der Universität Lausanne Soziologie der Migrationen.
Rosita Fibbi ist ausserdem Projektverantwortliche und Mitglied der Koordination des Schweizerisches Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM) an der Universität Neuenburg.
Ihre Arbeiten beinhalten namentlich Integrationsprozesse der Immigranten und ihrer Kinder, Mobilisierung der Vereine und Integrationspolitik.
swissinfo.ch: Werden die Portugiesen von neuem nach Hause zurückkehren oder werden sie diesmal definitiv in der Schweiz bleiben?
R. F. : Die Krise in Portugal trägt wohl dazu bei, eine Rückkehr immer unwahrscheinlicher werden zu lassen. Anderseits entwickelt die Emigranten-Population eine eigene Dynamik. Früher war es üblich, dass die Kinder in die Heimat zurückkehrten, wenn die Eltern dies so entschieden hatten.
Heute kehrt die zweite Generation nicht mehr nach Portugal zurück, wenn sie eine nachobligatorische Schulung oder Ausbildung in der Schweiz erhalten hat.
swissinfo.ch: Die Krise schlägt ja praktisch überall zu. Warum kommen viel weniger Spanier oder Italiener in die Schweiz als Portugiesen?
R. F. : Italiener und Spanier können, weil sie schon seit längerem auswandern, kaum mit Portugiesen verglichen werden. Aus diesen Ländern kommen teilweise auch politische Vertreter auf Besuch in die Schweiz, wenn auch nicht allzu oft.
Der Grund dafür ist ein demografischer. Italien und Spanien weisen immer tiefere Geburtenraten auf. Deshalb wandern weniger Italiener und Spanier als Portugiesen aus.
swissinfo.ch: Geht es um Sozialhilfe oder Invalidenversicherung, sind die Portugiesen anteilsmässig übervertreten. Warum?
R. F. : Portugiesen arbeiten in Berufen, in denen man sich eher verletzt, wenn man umfällt. Zieht man ihre Lebens- und Arbeitsumstände in Betracht, wird dies evident. Auch die Lebenserwartung dieser Leute ist eine andere. Man schreibt zwar nicht darüber, aber es scheint mir doch sehr klar zu sein.
swissinfo.ch: Jüngste Umfragen haben gezeigt, dass die Portugiesen in der Schweiz ein gutes Image haben. Wie ist das zu erklären?
R. F. : Zum einen, weil die Portugiesen nicht die Absicht hatten, sich in der Schweiz niederzulassen. Nun hat die Schweiz jene Immigranten ja immer begrüsst, die sich nicht im Land installierten. Und zum anderen arbeiteten die Portugiesen hart. Ich denke, diese zwei Aspekte sind entscheidend.
Mit der Personenfreizügigkeit verbesserte sich später die Situation der Portugiesen stark. Zudem sind die Portugiesen Leute, die nicht viel fordern und als angenehme Arbeitnehmer gelten. Was konnte man noch mehr verlangen?
swissinfo.ch: Was bedeutet es für die Schweiz, so viele Portugiesen im Land zu haben?
R. F. : Ich glaube, mit den Portugiesen hat die Schweiz das grosse Los gezogen. Es sind Leute, die bereit sind, die härtesten oder am wenigsten anspruchsvollen Arbeiten zu übernehmen, und dies in völliger Übereinstimmung mit den Erwartungen der Schweiz betreffend Immigration. Die Schweiz würde ohne die Portugiesen nicht funktionieren.
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