Wie man einen geliebten Menschen aus einer Sekte befreit
Sind Sie besorgt, dass Ihnen ein geliebter Mensch nach dem Beitritt zu einer Sekte entgleitet? Die Schweizer Hotline Infosekta beantwortet einige Fragen unserer Leserschaft zu diesem Thema.
Susanne Schaaf von InfosektaExterner Link – einer Zürcher Fachstelle für Sektenfragen – ist gut gelaunt. Ein ehemaliger Kollege hat gerade ein Verfahren gegen die Zeugen Jehovas am Bezirksgericht Zürich gewonnen. Die Religionsgemeinschaft hatte dem ehemaligen Infosekta-Mitarbeiter im Jahr 2015 diffamierende Anschuldigungen vorgeworfen. Die Richter entschieden, dass die Vorwürfe zwar schwerwiegend waren, aber durch handfeste Nachforschungen gestützt wurden.
«Wir sind keine Journalisten und Journalistinnen, die eine 50:50-Ausgewogenheit für beide Seiten brauchen, sondern nehmen wie eine Konsumentenschutz-Organisation eine kritische Haltung ein. Unsere Informationen müssen korrekt sein und basieren auf Sekundärliteratur, internen Dokumenten, Besuchen in Problemgruppen und Gesprächen mit Familien und ehemaligen Mitgliedern», sagt Schaaf gegenüber swissinfo.ch.
Die Zeugen Jehovas machten die meisten der Fälle aus (110 von insgesamt 716), mit denen Infosekta sich 2018 befasste, gefolgt von YOU Church (35), Scientology (24), International Christian Fellowship (17) und der Anastasia-Bewegung (11). Anfragen an Infosekta im Jahr 2018 betrafen rund 350 Gruppen, insgesamt beobachtet Infosekta 66 problematische religiöse und esoterische GruppenExterner Link.
Was ist eine Sekte?
«Aus theologischer Sicht sind Sekten Gruppen, die von der Bibel abweichen. Dieser Ansatz ist unserer Meinung nach nicht hilfreich, und wir beobachten eine Vielzahl von religiösen Gruppen, die Sorgen bereiten oder Probleme verursachen», sagt Schaaf.
Viele dieser religiösen Gruppen, insbesondere die evangelikalen, sind unzufrieden damit, mit esoterischeren Gruppen in einen Topf geworfen zu werden. Schaaf hat Verständnis dafür, dass sich diese Gruppen als Freikirchen und nicht als Sekten verstehen. Aber sie besteht darauf, dass manche Gruppen sektiererische Züge aufweisen.
«Auf den ersten Blick erscheinen sie wie jede Bibelgruppe. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen verbirgt sich ein schwarz-weisser Ansatz, bei dem man entweder zu Gott und der Gruppe gehört oder unter dem Einfluss von Satan steht», sagt sie.
Wie gründet man eine Sekte?
«In der Schweiz gibt es viele Anbieter im alternativen Weltanschauungs-Markt. Es ist daher nicht einfach, eine erfolgreiche Gruppe aufzubauen», sagt Schaaf.
Ihr zufolge muss die Führungsperson charismatisch sein und die Menschen davon überzeugen können, dass er oder sie besondere spirituelle Fähigkeiten hat. Der Anführer oder die Anführerin müssen ihre Lehre als etwas Einzigartiges darstellen, das bei der Lösung aller Probleme hilfreich ist. Aus praktischer Sicht muss man eine ansprechende Website erstellen, einen Ort finden, wo die Gruppe beten und sich versammeln kann.
In finanzieller Hinsicht bietet die Schweiz mit der Vereinsform eine einfache Organisationsmöglichkeit. Nach der Gründung kann man beim Kanton beantragen, dass der gemeinnützige Verein steuerbefreit wird.
Wer schliesst sich einer Sekte an?
Laut Schaaf gibt es in rechtsgerichteten Sekten mehr Männer. Auch in solchen, die Verschwörungstheorien aufstellen oder an Aliens glauben. Esoterische Gruppen mit Fokus auf Natur, Selbstheilung, Energie, Kristalle oder Engel ziehen mehr Frauen an, obwohl die Anführer oft Männer sind.
Manche Mitglieder problematischer evangelikaler Gruppen haben einen Migrationshintergrund aus Afrika und versuchen oft, Menschen aus der Diaspora zu bekehren.
Wie manipulieren Sekten die Menschen?
Laut Schaaf bemühen sich Sekten, Zweifel an den Prinzipien und Handlungen der Gruppe vollständig auszuräumen: «Sie behaupten, dass du frei entscheiden kannst, aber dann bitten sie dich, sorgfältig über deine Entscheidung nachzudenken. Einige behaupten sogar, dass Zweifel die Versuchungen des Teufels sind», sagt sie.
Sekten üben direkten und indirekten Druck auf die Mitglieder aus, Freunde und Verwandte in die Gruppe zu bringen oder sich von ihnen zu distanzieren, wenn sie die Gruppe verlassen. Zum Beispiel behaupten manche evangelikalen Gruppen, dass Nichtwiedergeborene Sünder sind, auch wenn sie ein tugendhaftes Leben führen. Dies kann zu Schwierigkeiten in Partnerschaften und Familien führen.
Manipulationen werden auch eingesetzt, um den Gläubigen Geld zu entlocken. Einige Gruppen bitten die Mitglieder, 10% und mehr ihres Monatseinkommens abzugeben. Menschen geben manchmal mehr, als sie sich leisten können, weil der Anführer sagt, dass sie es zehnfach oder hundertfach zurückerhielten.
«Wenn Menschen am Ende Probleme haben, versuchen die Gruppen, das auf externe Faktoren oder die Mitglieder selbst zu schieben. Diese umstrittenen Gruppen sollten dafür verantwortlich sein, wie ihre Botschaften verstanden werden», sagt Schaaf.
Wie befreit man jemanden aus einer Sekte?
Schaaf rät dringend davon ab, mit Wut oder starken Emotionen zu reagieren, da sich die Anhänger mental an einem anderen Ort befinden. Zu konfrontativ zu sein ist kein guter Ansatz, da Sie damit einen Gesprächsabbruch riskieren.
«Wir hatten Fälle, in denen Sektenanhänger Verwandte auf Social Media blockierten und ihre Telefonnummer änderten, weil sie keine mühsamen Diskussionen mehr wollten. Das ist das Schlimmste, was passieren kann, denn es ist in dieser Situation wichtig, so nah wie möglich dran zu bleiben», sagt Schaaf.
Statt Konfrontation ist es besser, darüber zu sprechen, was sie fühlen oder tun. Dies kann die Tür zu einem Dialog öffnen.
Wie lange dauert der Prozess?
«Um eine Sekte zu verlassen, muss eine Person einen Punkt erreichen, an dem sie es nicht mehr ertragen kann, zu bleiben, egal was passiert, wenn sie aufhört. Wir wissen nicht, wie lange dieser Prozess dauert», sagt Schaaf.
Ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas ging erst im Alter von 60 Jahren, nachdem es 40 Jahre dabei gewesen war. Deshalb empfiehlt Schaaf Verwandten und Freunden, zu akzeptieren, dass sie die Situation in naher Zukunft nicht wesentlich ändern können. Sie vergleicht die Erfahrung mit einem Verwandten mit Drogen- oder Alkoholproblemen oder einer Essstörung. Es braucht Zeit, um eine Sucht zu überwinden.
«Man muss ein Gleichgewicht finden zwischen Zuwendung und einem gewissen Abstand zum Selbstschutz. Wenn Sie zu distanziert sind, könnten Sie die Person verlieren. Zu viel Kontakt kann Sie stressen und Ihre Gesundheit schädigen», sagt Schaaf.
Der Weg zum Verlassen einer Sekte ist ein langfristiges Ziel mit vielen Schritten. Laut Schaaf sind die drei wichtigsten Dinge, die man als Freund oder Verwandter tun kann: die Beziehung am Leben erhalten, nicht urteilen und versuchen, regelmässig zu kommunizieren.
Wer kann in einer Krise helfen?
Die Polizei mischt sich nicht ein, da es sich bei den meisten Anhängern um urteilsfähige Erwachsene handelt. Einer der seltenen Fälle von Polizeiinterventionen war eine Razzia bei der KirschblütengemeinschaftExterner Link in der Nähe von Solothurn im Jahr 2015, da die Gruppe des Konsums illegaler psychotroper Drogen wie LSD, Ecstasy und Meskalin verdächtigt wurde.
Neben Anrufen auf der Infosekta-Hotline besteht die Möglichkeit, sich einer Selbsthilfegruppe für Familie und Freunde von Sektenmitgliedern anzuschliessen, um Erfahrungen auszutauschen. Es gibt auch eine Gruppe ehemaliger Zeugen Jehovas für Aussteiger. Beide Gruppen treffen sich einmal im Monat.
(Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)
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