Ranking-Schock: Wird die Schweiz immer schlechter in Englisch?
Eine weltweite Rangliste der Englischkenntnisse zeigt, dass die Schweiz zunehmend an Boden verliert. Doch die Festlegung eines nationalen Sprachniveaus ist nicht einfach. Was für und was gegen die (angebliche) Schweizer Englisch-Misere spricht.
Vor kurzem schlug RTS, der französischsprachige öffentliche Sender der Schweiz, AlarmExterner Link: «Das Niveau der Englischkenntnisse der Schweizer ist im freien Fall.» Das vierte Jahr in Folge sei die Schweiz in einem internationalen Ranking gesunken – von Platz 25 im Jahr 2021 auf Platz 30 (von 113) in diesem Jahr.
Ob ein Rückgang um fünf Plätze einem freien Fall gleichkommt, ist wohl Ansichtssache. Aber in der mehrsprachigen und hochgradig globalisierten Schweiz könnte ein solcher Abstieg als rätselhaft empfunden werden. Was ist also los?
Bei der von RTS zitierten Rangliste handelt es sich um den «EF English Proficiency Index» (EF EPI)Externer Link von 2023, der jährlich von dem weltweit tätigen privaten Bildungsunternehmen Education First (EF) mit Sitz in Zürich veröffentlicht wird.
Der EF EPI basiert auf den Ergebnissen von rund 2,2 Millionen Online-Englischtests und zeigt die Sprachkompetenz von Ländern, Städten und Regionen auf: Von den Niederlanden, Singapur und Österreich an der Spitze bis zum Jemen, Tadschikistan und der Demokratischen Republik Kongo am unteren Ende.
Die Schweiz liegt mit einem Wert von 553 knapp hinter Hongkong und knapp vor Honduras – und genau an der Grenze zwischen «hoher Sprachkompetenz» und «mässiger Sprachkompetenz». Der Bericht zeigt, dass die jungen Menschen in der Schweiz in den letzten Jahren deutlich zurückgefallen sind.
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Begrenzte Stichprobe
Als Mittel für einen allgemeinen internationalen Vergleich ist das Ranking jedoch fragwürdig. Was es durch einen riesigen Datensatz gewinnt, verliert es an Repräsentativität: Die Ergebnisse basieren auf Millionen von Antworten auf den kostenlosen Online-Englischtest von EF, an dem «nur diejenigen teilnehmen, die Englisch lernen wollen oder neugierig auf ihre Englischkenntnisse sind», schreibt das Unternehmen.
Diese Selbstselektion bedeutet eine potenzielle Verzerrung der Ergebnisse an beiden Enden der Skala: In ärmeren Teilen der Welt würden «Menschen ohne Internetanschluss automatisch ausgeschlossen»; in der hochvernetzten, hochqualifizierten Schweiz würden viele fliessend oder muttersprachlich Sprechende – wie die englischsprachige Redaktion von SWI swissinfo.ch – wahrscheinlich ebenfalls ausgeschlossen werden.
Das Durchschnittsalter der Befragten lag weltweit bei 26 Jahren, und fast 90% waren unter 35 Jahre alt; in der Schweiz ist jedoch weit über die Hälfte der Bevölkerung älter als 40 Jahre.
Laurent Morel, der EF-Ländermanager für die französischsprachige Schweiz, sagt, dass die Ergebnisse zwar «nicht repräsentativ für das ganze Land sind», aber ein gutes Bild derjenigen vermitteln, die ihr Englisch verbessern wollen oder müssen.
Die Methodik des Berichts – der bereits zum 13 Mal erschienen ist – ist konstant geblieben, sagt er. Das bedeutet, dass die «organische» Bandbreite der Befragten, die an dem Test teilnehmen, im Laufe der Zeit ziemlich stabil sein sollte und die sich abzeichnenden Trends gültig sind.
Er verweist insbesondere auf den Rückgang der Ergebnisse bei jungen Menschen in den letzten Jahren, der mit der Covid-19-Pandemie und den Schulschliessungen zusammenhängt.
Morel weist auch auf die Unterschiede zwischen den Ergebnissen in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz hin, was sich mit dem Eindruck vieler Menschen deckt, dass beispielsweise in Basel ein besseres Englisch gesprochen wird als in Lausanne.
Es macht auch Sinn, wenn man bedenkt, dass die Schulen in den deutschsprachigen Kantonen einen höheren Standard in Englisch haben, sagt er – während die französischsprachigen Schulen versuchen, Deutsch neben Englisch zu fördern.
Letztendlich glauben Morel und EF, dass die Rangliste ihre Vorteile hat: «Es gibt keinen anderen Datensatz von vergleichbarer Grösse und Umfang», schreibt EF.
«Trotz seiner Einschränkungen sind wir, wie auch viele politische Entscheidungsträgerinnen, Wissenschaftlerinnen und Analysten, der Meinung, dass es ein wertvoller Bezugspunkt in der weltweiten Diskussion über die englische Sprachausbildung ist.»
Interessant, wenn auch nicht ganz wissenschaftlich
Trotz der Verzerrungen schafft es der Bericht, Aufmerksamkeit zu erregen – zumindest in den Medien. Die Zeitschrift «Economist» bezeichnete die Ergebnisse 2018 als «interessant, wenn auch nicht ganz wissenschaftlich», und auch die «New York Times» und verschiedene Schweizer Medien (darunter SWI swissinfo.ch) haben in der Vergangenheit darüber berichtet.
Eine viel kommentierte Geschichte in der SonntagsZeitung Externer Linkin diesem Sommer nutzte die Rangliste als Anlass, um die Ursachen für den offensichtlichen Rückgang der Englischkenntnisse der Nation zu erforschen: Zum Beispiel die Konkurrenz durch andere Sprachen, die im Land gesprochen werden, und die Schweizer Tendenz, englischsprachige Filme zu synchronisieren, anstatt sie zu untertiteln. Andererseits, so die Zeitung, mache Österreich dasselbe und liegt auf Platz drei der Rangliste.
Der RTS-Artikel von letzter Woche ging auch auf Spekulationen über die Gründe ein und befragte Sekundarschullehrer:innen über angeblich sinkende Niveau – keine:r der Befragten aber hatte etwas bemerkt.
Die Pisa-Rangliste
Wenn der EF-Bericht wissenschaftlich auch nicht wasserdicht ist, so ist es doch schwierig, alternative Rankings zu finden, und die existenten Auswertungen sind oft entweder anekdotisch oder in ihrer Bandbreite begrenzt.
In einem Interview Externer Linkaus dem Jahr 2022 sagte die Leiterin des Sprachenzentrums der Universität Zürich, dass sich die Englischkenntnisse in der Schweiz «stark verbessert» hätten – zumindest nach dem, was sie bei den Drittklässlern, die die Kurse des Zentrums besuchten, beobachtet habe.
Beat Schwendimann vom Schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband verweist derweil auf die alle drei Jahre stattfindende PISA-Studie der OECDExterner Link, bei der die Schweizer Schülerinnen und Schüler (die Studie wird mit 15-Jährigen durchgeführt) 2018 auf Platz 16 von 35 Ländern bei den Englischkenntnissen landeten.
Was die Feststellung einer langfristigen Verschlechterung betrifft, so will Schwendimann die Ergebnisse der nächsten PISA-Studie abwarten, die im Dezember veröffentlicht wird.
PISA plant auch die Einführung einer neuen Fremdsprachenprüfung, um noch mehr Daten über die Englischkenntnisse in der ganzen Welt zu erhalten – allerdings erst im Jahr 2025 und wiederum mit Daten, die auf Jugendliche beschränkt sind.
In der Zwischenzeit, so spekuliert Schwendimann, könnte der Rückgang tatsächlich mit der Mehrsprachigkeit in der Schweiz zu tun haben: Während in anderen Ländern Englisch eindeutig die zweite Sprache ist, hat die Schweiz vier Landessprachen und eine vielfältige Einwanderungsgeschichte. Das ist eine Menge Wettbewerb.
Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass man immer weniger mit der englischen Sprache in Berührung kommt: Heutzutage lassen sich Internetseiten und Netflix-Streams mit einem einzigen Klick auf Deutsch, Französisch oder Italienisch übersetzen.
Die neue Lingua franca
Ob gut oder weniger gut gesprochen, Englisch ist in der Schweiz weit verbreitet. Es hat das Französische als zweithäufigste Sprache am Arbeitsplatz abgelöst (hinter Deutsch). Und es ist inzwischen keine Seltenheit mehr, dass sich deutsch- und französischsprachige Schweizer:innen auf Englisch unterhalten, was eine Debatte über nationale Identität, über Zusammenhalt und Bildungspolitik ausgelöst hat.
Im März dieses Jahres, nach der dramatischen, staatlich koordinierten Fusion von Credit Suisse und UBS, erlebten Journalist:innen in Bern sogar das Schauspiel, dass Regierungsvertreter:innen Erklärungen auf Englisch vorlasen und Fragen auf Englisch beantworteten – fast ein Novum bei einer innenpolitischen Pressekonferenz in der Schweiz.
Und schliesslich kann Englisch auch auf dem Arbeitsmarkt sehr hilfreich sein: Eine Studie der Adecco Group, einer Personalvermittlerin, hat in diesem Sommer ergeben, dass die Beherrschung des Englischen zusätzlich zu einer Schweizer Landessprache das Gehalt um 18% erhöht; Englisch plus zwei Schweizer Sprachen erhöht es um 20%.
Übertragung aus dem Englischen: Marc Leutenegger
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