Warum haben nicht alle Schweizer Bistros Zigaretten verbannt?
Mehrere Schweizer Kantone, darunter der Jura, setzen das seit zehn Jahren geltende Rauchverbot in Bars und Restaurants nachgiebig um. Dieser Anachronismus kann bei Auswärtigen auf der Durchreise für Erstaunen sorgen. Ein Bericht aus Pruntrut, dem Ort, der als Zigaretten-Hauptstadt der Romandie bezeichnet wird.
«Der Jura… Königreich der Zigaretten und Raucherparadies» oder «Der Aschenbecher der Schweiz». Seit etwa zehn Jahren haften solche nikotinversetzten Klischees am jüngsten Schweizer Kanton. Seit der Einführung des BundesgesetzesExterner Link über das Rauchverbot in öffentlich zugänglichen Räumen vor zehn Jahren – am 1. Mai 2010.
Den Kantonen steht es frei, die Anwendung des Gesetzes zu verschärfen (oder auch nicht). Einige Kantone liessen dabei gewisse Lücken offen für jene, die sich nicht von alten Kneipenritualen trennen können.
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Nicht lang her, und doch so anders
Auch wenn Raucherräume (Fumoirs) inzwischen vielenorts alltäglich sind, fühlen sich Stammgäste dort manchmal noch heute gettoisiert, abgeschottet wie Pestopfer in «Aquarien», die zudem oft die Lokale verunstalten. Fumoirs werden nicht sehr geschätzt, und sie sind oft klein. Es ist ähnlich, wie wenn schlechte Schüler «in die Ecke» gestellt werden.
Im Jura ist es jedoch umgekehrt. Hier raucht man offen. Allein in Pruntrut (Porrentruy) haben ein halbes Dutzend Cafés, Bars und Restaurants Aschenbecher auf den Tischen. Dieses Phänomen ist im Bezirk Porrentruy und in der Ajoie am stärksten ausgeprägt, weniger in Delémont (Delsberg) oder den Freibergen (Franches-Montagnes).
«Nichtraucher willkommen»
In der Altstadt von Pruntrut, bei «Chez Steph'», setzen sich die ersten Kunden morgens um 6.30 Uhr hin, bevor sie zur Arbeit gehen. Oder einen Computerkurs besuchen. Wie dies bei Alain der Fall ist. «Zum Lesen der Zeitung gehören ein Kaffee und eine gute Zigarette», sagt der Mechaniker, Kippe in der Hand.
Mit seinen 25 Jahren Nikotinabhängigkeit erklärt er mit Bonhomie: «Nichtraucher sind – auch hier – willkommen. Man kann doch nicht alles verbieten. Im Jura kämpfen wir, vielleicht mehr als anderswo, dafür, den Menschen die Freiheit der Wahl zu geben. Dazu gehören auch Aperitifs und Kippen.»
Das Lokal ist an Wochenenden manchmal bis 1.30 Uhr morgens geöffnet. Die Bar riecht nach altem Tabak, aber es wird alles getan, damit die Luft am nächsten Tag jeweils wieder gesund und erträglich ist.
«Am Abend bleiben die Kunden meist drinnen, wenn sie eine rauchen, anstatt nach draussen zu gehen, was oft Lärm verursacht», sagt die elsässische Kellnerin.
Morgane beneidet ihre Schweizer Kunden, die noch immer in einem Café Zigaretten rauchen dürfen. Bei ihr zu Hause sind diese Zeiten vorbei.
In Frankreich waren die kleinen Tabakbars, in denen die Leute ihre Zigarettenstummel auf den oft mit Sägemehl bestreuten Boden warfen, die ersten Opfer des Rauchverbots an öffentlichen Orten, das 2008 in Kraft trat. Um Einkommensverluste auszugleichen, richteten viele Cafés Terrassen ein.
«Im Jura kämpfen wir, vielleicht mehr als anderswo, dafür, den Menschen die Freiheit der Wahl zu geben. Dazu gehören auch Aperitifs und Kippen.»
Alain, Kunde im «Chez Steph’»
Hier in Pruntrut, hinter der Theke, sagt die Elsässerin Morgane weiter: «Diese Szenerie wäre in Frankreich heute unvorstellbar. Zu Hause haben sich die Menschen an das Gesetz gewöhnt. Es gibt wenig Widerstand. Mit Ausnahme einiger weniger Bars, die das Risiko eingehen, erwischt zu werden. Im Jura ist es hingegen legal. Ich vermisse solche geselligen und familiären Räume in Frankreich sehr», vertraut sie uns an.
Einstige Ferienjobs: Tabak ernten
50 Meter weiter ermöglicht die Brauerei «Deux Clefs» die Fortsetzung der Zeitreise. Corinne Laissue, Stadträtin und mit ihrem Bruder Eigentümerin des Lokals, erinnert sich, dass die Jugendlichen im Jura in der Vergangenheit «in den Ferien Tabak ernteten, um etwas Taschengeld zu verdienen».
Sie halfen bei der Ernte der Tabakblätter in Boncourt, Courgenay oder Buix. Der Jura und der Tabak, das ist eine alte Geschichte.
Dazu gehörte die Familiendynastie der Burrus aus Boncourt, die während über einem Jahrhundert als Patrons und Mäzenen fungierte. Doch diese Verbindung zwischen dem Jura und dem Tabaksektor verblasste mit der Übernahme des Familienunternehmens durch den multinationalen Konzern British American Tobacco (BAT) Mitte der 1990er-Jahre.
Im «Les Deux Clefs» ist das Rauchen in der Brauerei derart zur Gewohnheit geworden, dass es manchmal zu Verstössen kommt. «Manchmal durchqueren Kunden mit brennender Zigarette im Mund den Nichtraucherbereich. Dann müssen wir ihnen hinterherrennen», wettert Corinne Laissue. Man kann das Lokal durch zwei separate Eingänge betreten. Ein Eingang führt direkt in den Raucherbereich, der andere direkt in den Nichtraucherbereich, der etwas grösser ist.
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Die Schweiz, Bollwerk der Tabakkonzerne
Ein grosses Buntglasfenster trennt die beiden Welten. Der Raucherbereich hat die maximal erlaubte Fläche (80 m2). Manchmal kommt der Dienst für Lebensmittelhygiene/Gesundheit vorbei, um die Luftqualität zu kontrollieren. «Dann muss das Café zwei Stunden geschlossen bleiben. Es wird ein Produkt eingespritzt und danach wird das Belüftungssystem getestet».
Gemischtes Publikum
Und was sagt das Personal, dessen Lungen den Rauch verkraften müssen? «Im Arbeitsvertrag ist vermerkt, dass wir in einem Raucherbereich arbeiten», sagt die Sommelière im «Deux Clefs». Sie serviert ihren Gästen, alt und jung gemischt, Kaffee. Zwei Tische weiter zerdrückt eine Rentnerin energisch ihren Zigarettenstummel. «Unsere Klientel kommt aus allen Gesellschaftsschichten», sagt Corinne Laissue mit einem Hauch von Stolz.
Manchmal gesellen sich noch Akzente von anderswo zu dieser Mischung. «So kamen einmal Gäste aus der Zentralschweiz mit ihren langen, gedrehten Zigarren und versicherten mir, dass es bei ihnen zu Hause… genauso sei. Dass sie ein totales Rauchverbot niemals akzeptieren würden. Dass auch sie in den Lokalen in ihren Dörfern weiterhin frei rauchen würden.»
Neun Bars im Kanton Jura
Was die Prävention betrifft, wendet der Kanton Jura einfach das Bundesgesetz zum Schutz vor Passivrauchen und dessen Verordnung an. Andere, hauptsächlich deutschsprachige Kantone (Schaffhausen, Zug, Luzern, Nidwalden, Obwalden, Glarus, Schwyz) tun dies ebenfalls. «Auch sie haben keine strengere Gesetzgebung erlassen», sagt Jacques Gerber, Gesundheitsminister des Kantons Jura, welcher in der französischen Schweiz eine Ausnahme ist.
Nach Angaben des jurassischen Ministers gibt es in zehn Schweizer Kantonen zugelassene Raucherlokale. «Man kann also nicht sagen, dass der Jura lascher ist als die anderen. Vor allem da hier eine kantonale Richtlinie für strengere Kontrollen der Lüftungsanlagen erlassen wurde als anderswo», betont er.
Nur neun der insgesamt mehr als 270 Bars und Restaurants im ganzen Kanton Jura erhielten eine Lizenz zum Einrichten eines Raucherlokals. Vier davon sind fest in Pruntrut verankert. «Es ist eine sehr kleine Minderheit», sagt Jacques Gerber.
In den zehn Jahren seit das Gesetz in Kraft ist, registrierte die Polizei im Kanton nur sehr wenige Verstösse. «In Porrentruy gab es 2019 keine Bürgerbeschwerde wegen Nichteinhaltung des Rauchverbots», sagt der Minister.
Und verstösst eine Einrichtung gegen das Gesetz, wird eine Grundsatzmahnung direkt an sie geschickt. Leistet sie der Mahnung nicht Folge, kommt es zu einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, die Bussen oder andere Strafen erlassen kann. Seit Inkrafttreten des Gesetzes sind Berichten zufolge nur drei Einrichtungen angeprangert worden.
Unterstützung durch die Bevölkerung
Kollidiert dieser Spielraum, der im Kanton Jura der individuellen Freiheit überlassen wird, nicht mit gesundheitlichen Imperativen? «Überhaupt nicht», antwortet Jacques Gerber. Wie andere Kantone auch «haben wir ein eigenes Programm zur Prävention des Rauchens». Mit Programmen in Schulen und Sporteinrichtungen sowie Aufklärung über die Gefahren des Passivrauchens.
«Die Anwendung dieses Gesetzes machte es möglich, die Belastung der Menschen im Jura durch Tabakrauch an öffentlichen Orten stark zu reduzieren und gleichzeitig kleinen Betrieben und deren Kunden eine gewisse Freiheit zu lassen, was von der Bevölkerung unterstützt wird», sagt der Minister.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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