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Russen in Montreux – mit oder ohne Chodorkowski

Sonnenuntergang als Attraktion: Montreux. swiss-image.ch

Nabokov, Stravinsky, Gogol… und nun könnte die Stadt an den Ufern des Genfersees auch mit dem Namen Michail Chodorkowski in Verbindung gebracht werden. swissinfo.ch hat sich in Montreux umgehört, um sich ein Bild von der Stimmung in der dortigen russischen Gemeinde zu machen.

Die kleine Stadt Montreux im Kanton Waadt hat eine Bevölkerung von rund 25’000 Menschen, 49% davon Ausländerinnen und Ausländer. Nach Angaben des Stadtpräsidenten Laurent Wehrli umfasst die russische Gemeinde etwa 800 Personen. Die Russen selbst bezeichnen Montreux manchmal als das «russische Dorf».

«Die Russen lieben die Stimmung von Montreux. Nabokov hat 17 Jahre lang hier gelebt, Gogol Les Âmes mortes geschrieben, Stravinsky Musik komponiert und der Regisseur Nikita Mikhalkov hat Szenen seines Films The Sunstroke (Der Sonnenstich) hier gedreht und die Ufer des Genfersees zu den Ufern der Wolga umgewandelt. Montreux ist für russische Touristen eine Kultstätte», erklärt Yulia Gigon-Yegorova, die seit einigen Jahren in der Gegend lebt.

«Ich wäre nicht überrascht, wenn auch Michail Chodorkowski diese Stadt auswählen würde. Er könnte sich hier ausruhen und seinen Kampf gegen die [russische] Staatsmacht weiterführen, wie andere Leute seines Kalibers.» Dass sich der ehemalige Erdöl-Tycoon in Montreux niederlassen könnte, erscheint ihr logisch: Einerseits ist es ein wundervoller Ort, andererseits ist es nicht allzu schwierig, hier Wohnraum zu finden», sagt Gigon-Yegorova.

Am 20. Dezember 2013 wurde Michail Chodorkowski nach zehn Jahren Gefängnis vom russischen Präsidenten Vladimir Putin begnadigt. Darauf erhielt er von Deutschland, das sich für seine Freilassung eingesetzt hatte, ein für ein Jahr gültiges Visum.

Am 5. Januar 2014 verliess Chodorkowski Berlin, um zu seiner Frau und Kindern in der Schweiz zu reisen, von der er ein Schengen-Visum (erneuerbar) erhalten hatte. Mit diesem Visum kann er während drei Monaten in den 26 europäischen Ländern herumreisen, die zum Schengen-Raum gehören, darunter die Schweiz.

Verschiedenen Schweizer Medienberichten zufolge leben Chodorkowskis Ehefrau und seine beiden Söhne in Chernex bei Montreux (Kanton Waadt), aber sein Sprecher hat diese Angaben nicht bestätigt.

Der 2003 verhaftete ehemalige Erdöl-Magnat wurde 2005 und 2010 wegen Steuerhinterziehung, Betrug, Öl-Diebstahl und Geldwäscherei verurteilt. Die Verfahren wurden weithin als politisch betrachtet, sie seien aufgrund der Kritik Chodorkowskis an die Adresse des Kremls erfolgt.

Im Rahmen eines russischen Rechtshilfegesuchs hatte die Bundesanwaltschaft 2004 in der Schweiz 6,2 Milliarden Franken auf 5 Banken blockiert, die auf 20 Konten von Aktionären des Erdölkonzerns Yukos lagen. Ein grosser Teil dieser Gelder musste wieder freigegeben werden, nachdem das Bundesgericht zum Schluss gekommen war, das Strafverfahren werde durch die russische Führung in Moskau instrumentalisiert.

«Wie zu Hause»

«Der Erwerb von Immobilien durch Ausländer unterliegt strikten Einschränkungen», erklärt Sergey Sander von der Immobilienfirma «The Leading Properties of the World» in Montreux, deren Klientel zur Hauptsache russischsprachig ist. «Die Mehrheit der Immobilien, die an Ausländer verkauft werden, befinden sich in touristischen Regionen wie den Kantonen Waadt und Wallis sowie im Berner Oberland. Es gibt nicht viele, aber in Montreux hat man mindestens ein bisschen eine Auswahl.»

«Falls Inna Chodorkowskaja [die Ehefrau des ehemaligen Oligarchen] ihre Wohnung besitzt, so hat sie diese sehr wahrscheinlich mit Hilfe einer der lokalen grossen Makleragenturen erworben», schätzt Sander. Seinen Angaben zufolge bewegen sich die Preise in Montreux zwischen 10’000 und 30’000 Franken pro Quadratmeter. Er verweist darauf, dass Schweizer Banken auch ausländischen Kunden Hypothekarkredite gewähren, zu Zinsraten, die etwa für Russen deutlich günstiger sind als in ihrem Heimatland.

«Würde Chodorkowski sich hier niederlassen und alle Welt ihn besuchen, würde die Waadtländer Riviera rasch zu einem Zentrum der russischen Opposition «, sagt der Makler und lächelt. Und falls dem so wäre, sei es nicht schwierig, sich in Montreux zu akklimatisieren. «Wenn man einmal durch die beiden Hauptstrassen spaziert ist, mit ihren Bars und Läden, und das Nabokov-Denkmal fotografiert hat, fühlt man sich hier wie zu Hause», versichert Sander.

Ein Millionenpanorama

Das Dorf Chernex, wo Inna Chodorkoswkaja laut Medienberichten lebt, liegt wenige Minuten oberhalb der Stadt Montreux. Das Panorama von der Anhöhe aus ist atemberaubend. Dieser Ausblick, heisst es oft scherzhaft, treibe den Preis von Wohnungen automatisch um eine Million Franken in die Höhe. Und daran ist sicher etwas, der Ausblick bei Sonnenuntergang ist fabelhaft, wenn die letzten Strahlen der Sonne die Gipfel der Alpen erleuchten und goldfarbene Streifen sich auf der dunklen Oberfläche des Seewassers spiegeln.

Alte Chalets stehen Seite an Seite mit modernen Häusern, doch von der Erscheinung her hat Chernex nichts besonders Protziges oder Neureiches an sich. Die wenigen Passanten, denen man begegnet, grüssen freundlich. Es gibt einen Bahnhof, eine Post, zwei Restaurants, einen kleinen Lebensmittelladen sowie eine Metzgerei.

«Ich habe viele russischen Kunden», erzählt der Metzger bereitwillig. «Es sind angenehme, eher verschlossene Leute. Sie kaufen gutes Fleisch, manchmal für 200 Franken, und sie mögen es nicht, wenn ich ihnen etwas anderes vorschlage. Was Chodorkowski angeht, darüber  wissen wir nichts. Man sagt, er habe zwei Söhne im Schulalter, aber die haben wir nie gesehen.»

swissinfo.ch

«Die russische Küche ist nicht populär»

Die Brasserie Métropole an der Uferpromenade in Montreux gehört Natalia Yudochkina. «Die frühere, 75 Jahre alte Eigentümerin hatte lange einen Käufer gesucht. Schliesslich haben ich und mein Vater, er ist Gastronom in Moskau, sie 2009 gekauft», erklärt Yudochkina, die einen Masterabschluss in Hotel-Management hat.

Die Brasserie hat 500 Plätze, eine Terrasse und eine Bar. Die neue Besitzerin hat die Schweizer Menükarte beibehalten» «Die russische Küche ist in Europa nicht populär. Sie ist teuer und zu fetthaltig. Das einzige Produkt, das gut läuft, ist der Wodka.»

Wie würde sie reagieren, falls Chodorkowski in der Brasserie Métropole auftauchen würde? «Ich würde ihn begrüssen und mit Respekt bedienen, wie jeden anderen Gast auch, und würde mich nicht zu einem Gespräch aufdrängen», erklärt sie professionell.

Diese Rücksichtnahme bedeutet aber keinesfalls Gleichgültigkeit, denn sie ist dabei, im Internet das Buch zu lesen, das Chodorkowski während seiner Zeit in russischer Gefangenschaft geschrieben hat: «Er schreibt gut und er hat interessante Ideen.»

Und was tun sie?

Die Menschen aus der früheren Sowjetunion haben hier ganz unterschiedliche Aktivitäten entwickelt. So findet man die russische Klinik Origitea, die sich auf Schlankheits-Behandlungen spezialisiert hat, oder die ukrainische Bijouterie Natkina sowie verschiedene Kunstgalerien und Schönheitssalons.

Das Flammenlogo von Socar, dem wichtigsten Erdölkonzern Aserbaidschans, der 2012 mit dem Kauf von 163 Tankstellen von ExxonMobil in den Schweizer Markt eintrat, ziert das Schaufenster der Tankstelle in der Nähe des Hotels Montreux Palace. Socar ist auch ein Hauptsponsor des Montreux Jazz Festivals.

Auf dem Mont Pèlerin, oberhalb der Stadt Vevey, befindet sich eine luxuriöse Wohnanlage mit dem Namen Parc Kempinski, hinter der die Firma Swiss Development Group Ilyas Krapunow steht. Der Vater des Jungunternehmers, der frühere Bürgermeister von Almaty, Victor Krapunow, liess sich mit seiner Familie in der Schweiz nieder, nachdem er sich mit Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbejew überworfen hatte. Ilyas Krapunow stieg darauf hier ins Geschäft mit Immobilien ein, im April 2013 verkaufte er sein Unternehmen an einen Schweizer Geschäftsmann.

Und was tun jene, die weder Millionen noch Unternehmen haben? Die meisten arbeiten im Dienstleistungs- oder Gewerbebereich. Wenn sie sich einmal an der Waadtländer Riviera eingelebt haben, bieten sie (viele davon Frauen) hier ihre Dienste an, vor allem im Kreis ihrer Landsleute. Sie arbeiten als Sprachlehrer, Übersetzer, Chauffeure, Gärtner, Wachleute, Einkaufsberater und bieten ihre Dienste für alles an, was Details des Lebens in der Schweiz angeht, all dies in Russisch. Mit oder ohne Chodorkowski – sie werden weiterhin ihrer täglichen Routine nachgehen.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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