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Schweiz legt das Thema Alkohol auf den Tisch

Ein Glas Bier kann Teil der Sozialisation sein, während übertriebener Konsum zum Ausschluss aus der Gesellschaft führen kann: Es hilft, darüber zu sprechen! Keystone

Über Alkoholprobleme zu reden, betrifft die gesamte Gesellschaft. Die Schweiz spielt eine neue Karte und setzt auf Prävention, mit einer umfangreichen, landesweiten Kampagnenwoche, die zum Dialog aufruft.

Ob direkt oder indirekt: Alkoholprobleme betreffen einen grossen Teil der Bevölkerung. Der Alkoholmissbrauch in der Schweiz führt jährlich zu Kosten von rund 6,7 Milliarden Franken.

Eine ganze Stange Geld, hinter der die Schicksale einer grossen Menge Menschen stehen: Jene, die Alkohol missbrauchen, und jene, die zu deren Umfeld gehören. Es sind Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und -gruppen: Männer, Frauen, Junge, Alte.

«Den typischen Alkoholiker oder die typische Alkoholikerin gibt es nicht», sagt Jann Schumacher, einer der Verantwortlichen der Schweizer Dialogwoche Alkohol, gegenüber swissinfo.ch. Schumacher ist auch Vizedirektor der Stiftung Ingrado, die sich auf die Beratung und Behandlung von Suchtkranken (Alkohol und andere Substanzen) spezialisiert hat.

«Wer in Schwierigkeiten steckt, ist anfälliger für überhöhten und wiederholten Alkoholkonsum, weil man so die eigene Stimmung verbessern will. Das ist aber nicht garantiert: Die Stimmungen einer Person, die Hilfe im Alkohol sucht, können sehr unterschiedlich ausfallen, weil Alkohol nicht immer die gleiche Wirkung hat. Das ist von Mensch zu Mensch verschieden und hängt sehr stark von der Situation ab», so der Psychologe.

Die ganze Schweiz spricht darüber

Doch auch angesichts der Dimension dieses Phänomens gibt es «Aspekte und Situationen im Zusammenhang mit Alkohol, die noch tabu sind», so Schumacher. Die nationale Kampagne setzt daher auf den Dialog.

Zu Beginn suchten die Promotoren Partner aus allen möglichen Milieus. «Das erlaubt uns, die Diskussion über Alkohol breit zu streuen und mit konkreten Aktivitäten eine grosse Zahl von Leuten zu erreichen», sagt der Psychologe. So entstehe eine Dynamik, die es ermögliche, «einen Dialog zu entwickeln, der breiter und flexibler ist, als dies eine klassische Kampagne sein kann».

Vom 21. bis 29. Mai sind über 260 verschiedene Aktivitäten an mehr als 620 Veranstaltungen im ganzen Land geplant. Vom Sport und der Kunst über Bibliotheken, Fahrsimulationen, Spitäler, Medien, Arbeiten an einer Bar bis zum Besuch von Einrichtungen für Alkoholiker und Weinbars findet sich alles im Programm, das mit 230 Partnern organisiert wurde.

Nicht verbieten, aber sensibilisieren

Eine weitere Besonderheit des Aktionsplans ist, dass bei bestimmten Veranstaltungen Alkohol ausgeschenkt wird. Mit diesem Ansatz soll auf Eigenverantwortung und bewussten Konsum gesetzt werden.

«Wer im Bereich der Suchtprävention arbeitet, weiss, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der ein Grossteil der Bevölkerung Alkohol konsumiert», sagt Schumacher. «Das Ziel ist nicht, einen Nullkonsum zu erreichen, sondern einen verantwortungsvollen Konsum, der weder einem selber noch jemand anderem Schaden zufügt.»

Alkohol gehört zu unserer Kultur. So ist Wein bei vielen ein fester Bestandteil einer Mahlzeit. Wie auch Alkoholkonsum bei geselligem Zusammensein.

Laut dem letzten Gesundheits-Monitor aus dem Jahr 2007 haben 14% der Bevölkerung über 15 Jahren ein- oder mehrmals täglich Alkohol konsumiert, 10% mehrmals wöchentlich, 33% ein- bis zweimal pro Woche, 26% weniger als einmal pro Woche und 17% waren abstinent.

Verschiedene Exzesse

Auch wenn der Alkoholkonsum in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten konstant abgenommen hat und ein Grossteil der Bevölkerung moderat trinkt, haben zwischen 4 und 5% schwere Suchtprobleme.

Neben dem chronischen Missbrauch kennt man auch den episodischen und den unangepassten Konsum (Alkohol am Steuer, während der Schwangerschaft, bei einer gefährlichen Arbeit, usw.). Insgesamt sind laut Schumacher somit zwischen 20 und 30% der Bevölkerung von Problemen mit Alkohol betroffen.

Chronischer Alkoholkonsum ist besonders in fortgeschrittenem Alter zu beobachten und hat schwere Auswirkungen auf die Gesundheit. Exzessives Trinken tritt besonders im Alter zwischen 25 und 34 auf und führt zu einem erhöhten Risiko von Unfällen, Gewalt und ungeschütztem Sex.

Bei den Jungen anfangen

In den letzten Jahrzehnten hat das Alter, in dem zum ersten Mal Alkohol konsumiert wurde, stetig abgenommen, Mädchen trinken mehr, und unter jungen Menschen herrscht eine Tendenz zu «übermässigem Alkoholkonsum und Trunkenheit. Waren die Jungen früher gegen Ende des Abends betrunken, sind sie es heute oft bereits zu Beginn», so Schumacher.

Dies seien beunruhigende Phänomene, nicht nur, was die unmittelbaren Risiken des Missbrauchs betreffe, sondern auch weil «sie bereits in jungen Jahren beginnen, eine Beziehung zum Alkohol aufzubauen. Wenn eine Person nie übermässig getrunken hat, wird sie mit 40 Jahren auch nicht mehr damit anfangen. Es kann zwar vorkommen, ist aber eher selten», sagt der Experte.

Andererseits sei es «für einen Erwachsenen schon schwer genug, einzugestehen, dass er ein Problem hat. Für junge Menschen ist das aber noch viel problematischer», sagt Jann Schumacher. Im Allgemeinen würden die Jugendlichen «vielleicht zugeben, manchmal etwas zu übertreiben, aber sie haben das Gefühl, jederzeit damit aufhören zu können», ohne dass sie sich aber der gesundheitlichen Risiken bewusst seien, die mit solchen Exzessen verbunden sind.

Wichtiger Dialog

Offen über die Risiken und über die Massnahmen zu reden, die ergriffen werden sollten, um einen unkontrollierten Alkoholkonsum zu verhindern, ist daher unbedingt nötig. Nur so kann Menschen mit Alkoholproblemen angemessen geholfen werden, ihre Probleme zu lösen.

Der Dialog ist auch wichtig für jene, die mit einer Person mit Alkoholproblemen zusammenleben (Familie, Freunde, Arbeitskollegen), die sich ihrem Problem nicht stellen will. «Beispielsweise müssen sie verstehen, dass es nichts bringt, jemanden mit einem Alkoholproblem immer wieder zu decken, denn so verschlimmert man die Situation nur noch», sagt Schumacher.

Wenn man jemandem wirklich helfen wolle, seine Probleme mit Alkohol zu lösen, müsse man sich mit Leuten in Verbindung setzen, die über die Fähigkeiten zur Intervention verfügten. Es sei zentral, «Unterstützung zu erhalten, sei es für die Person mit einem Alkoholproblem oder für einen selber, um nicht in einer ewigen Leidensspirale gefangen zu bleiben», so der Experte. Und genau diese Fragen geht die Dialog-Kampagne an.

Die Schweizer Regierung hat 2008 das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit der Durchführung des Nationalen Programms Alkohol 2008-2012(NPA) beauftragt. Ziel: Verminderung des problematischen Alkoholkonsums und seiner negativen Folgen.

Das NPA wurde in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission für Alkoholfragen, der Eidgenössischen Alkoholverwaltung, den Kantonen und weiteren Akteuren der schweizerischen Alkoholpolitik erarbeitet.

Mit der «Dialogwoche Alkohol» vom 21.-29. Mai 2011 lanciert das BAG eine neuartige Alkoholkampagne. Den Auftakt bildet eine Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern mit Runden Tischen und Unterhaltung. Die zweite «Dialogwoche Alkohol» wird im Mai 2013 stattfinden. 2012 soll am 10. Mai ein «Alkoholtag» organisiert werden.

Die «Dialogwoche Alkohol» wird gleichzeitig auch in den Nachbarländern Liechtenstein und Deutschland durchgeführt.

Während der Hauptkampagne werden auch kleinere, spezifische Kampagnen mit einzelnen Partnern durchgeführt, bei denen es um Themen wie Alkohol in den Schulen, Alkohol im Sport usw. geht.

Im Mittelpunkt der neuen Kampagne soll der gesellschaftliche Dialog stehen – das Gespräch am Tisch, die Aktion im Quartier.

Laut der Weltgesundheits-Organisation WHO liegt die Schwelle, ab welcher der Alkoholkonsum problematisch werden kann, bei einer täglichen Dosis von 10-12 g (reiner Alkohol) für Frauen und 20-24 g (reiner Alkohol) für Männer.

Das entspricht einer Standarddosis von 1 dl Wein oder 3 dl Bier oder 0,2 dl Schnaps.

Über 60 Krankheiten und Gebrechen weisen einen Zusammenhang mit Alkoholkonsum auf. Nicht nur die Quantität ist entscheidend, sondern auch die Trinkgewohnheit.

Konsum von reinem Alkohol pro Kopf über 15 Jahren 2009: 10,1 l reiner Alkohol.

12,5% tranken die Hälfte allen Alkohols. 46,5% tranken 90%.

Täglich werden etwa 6 Jugendliche oder junge Erwachsene wegen Alkoholvergiftung in ein Spital eingeliefert.

Schätzungsweise 2000 Personen sterben jährlich im Zusammenhang mit Alkohol. Zwischen 250’000 und 300’000 sind alkoholsüchtig.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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