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Schweizer Einfluss auf Guantanamo-Schicksale

AFP

Nach achtjähriger, illegaler Haft haben drei ehemalige Guantanamo-Gefangene 2010 in der Schweiz Asyl erhalten. Drei weitere sind aber an den Schweizer Behörden gescheitert. Was ist aus ihnen geworden? swissinfo.ch hat ihre Spuren verfolgt, vom Kanton Jura bis in ein algerisches Gefängnis.

Nach den jüngsten Versprechen des amerikanischen Präsidenten Barack Obama, das «Symbol des Unrechts» zu schliessen, sind die ehemaligen Gefangenen des US-Militärstützpunkts auf der kubanischen Insel erneut zum öffentlichen Thema geworden.

Das öffentliche Interesse konzentriert sich vor allem auf die 166 Gefangenen, die immer noch im Gefangenenlager festgehalten werden. Aber was ist mit den andern? Was ist zum Beispiel aus jenen geworden, die mit der Schweiz zu tun hatten?

Abgewiesene Asylsuchende

Die Geschichte beginnt 2008. Drei Gefangene aus Guantanamo ersuchen die Schweiz um Asyl, mit Unterstützung des Center for Constitutional Rights in New York und Amnesty International (AI). Weil ihr Gesuch abgelehnt wird, legen sie beim Bundesverwaltungsgericht (BVG) Rekurs ein.

2009 heissen die Bundesrichter einen ersten Rekurs gut, nämlich jenen von Abdul Aziz Naji, Immatrikulations-Nummer 744, algerischer Nationalität. Das Bundesamt für Migration (BfM) wird angewiesen, den Fall zu überprüfen (Vgl. rechte Spalte). Ein Jahr später fällt das BVG auch im Fall von Ra’ouf Abu al-Qassim, I-Nr. 709, libyscher Nationalität, ein positives Urteil. Das dritte Gesuch, jenes des Uiguren Adel Noori, I-Nr. 584, lehnen die Bundesrichter ab.

Heute, vier Jahr später, sind die Dossiers des Algeriers Naji und des Libyers Abu al-Qassim immer noch pendent. «Es handelt sich um sehr komplexe Fälle», erklärt Michael Glauser vom Migrationsamt. Zu den Gründen, die zum ersten negativen Entscheid führten und der Frage, weshalb das Migrationsamt dem BVG-Entscheid immer noch nicht nachgekommen ist, will sich der BfM-Sprecher mit Verweis auf den Datenschutz nicht äussern.

Inzwischen befinden sich die Asylsuchenden nicht mehr in Guantanamo. Nach achtjähriger Haft ohne offizielle Anklage und Verurteilung wurden sie zwischen 2009 und 2010 aus Guantanamo entlassen.

Der heute 44-jährige Uigure Adel Noori wurde auf der Pazifikinsel Palau aufgenommen. Laut Denise Graf von Amnesty International (AI) hat er dort inzwischen eine Familie und Arbeit gefunden. Der 48-jährige Libyer Ra’ouf Abu al-Qassim wurde nach Albanien geschickt. Dort konnte er sich aber laut Menschenrechtsorganisationen nicht wirklich integrieren. Nach dem Sturz Gaddafis hat er alles unternommen, um in sein Land zurückzukehren. Seither fehlt von ihm jede Spur.

Weil das Asylgesuch des Algeriers Abdul Aziz Najis 2009 abgelehnt wird, reicht dessen Anwalt beim Bundesverwaltungsgericht (BVG) Beschwerde ein. In seinem Urteil vom 10. Dezember 2009 heisst das BVG die Beschwerde gut. Es kommt zum Schluss, dass das Bundesamt für Migration (BfM) «das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers und damit Bundesrecht verletzt hat…». Die Gründe für die Ablehnung seien derart vage gewesen, dass eine Stellungnahme faktisch gar nicht möglich gewesen wäre.

Der angefochtenen Verfügung des Migrationsamtes mangle es auch «an einer überzeugenden und nachvollziehbaren Einschätzung, inwiefern das öffentliche Interesse der Schweiz gegen eine Einreise und Asylgewährung des Beschwerdeführers spreche», so das BVG.

Trotz des klaren BVG-Verdikts vom Dezember 2009 hat das BfM das Asylgesuch bis zum heutigen Tag nicht neubeurteilt. In seiner schriftlichen Stellungnahme zu den Fragen von swissinfo.ch schreibt das BfM: «Die Dauer eines Asylverfahrens hängt von verschiedenen Faktoren ab, u.a. von möglichen zusätzlichen Untersuchungen zur Klärung des Falls, aber auch von der Priorität der zu behandelnden Dossiers.»   

Wieder im Knast

Vom Regen in die Traufe gekommen ist der 38-jährige Abdul Aziz Naji, den die USA 2010 gegen seinen Willen von Guantanamo ins Herkunftsland Algerien ausgeschafft hatten, wo er wieder eingesperrt wurde und seit 2012 eine dreijährige Gefängnisstrafe verbüsst.

Die Anschuldigungen sind die gleichen, die auch die USA gemacht hatten aber nie bewiesen werden konnten. «Sein psychischer und physischer Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends», erklärt seine algerische Anwältin Hassiba Boumerdassi. «Er ist sehr introvertiert und misstrauisch. Freiwillig erzählt er nicht über seine Erfahrungen in Guantanamo, die ihn traumatisiert haben. Im algerischen Gefängnis erhält er nicht die erforderliche medizinische Betreuung. Er wird von anderen Gefangenen isoliert und – wie alle Terrorismus-Verdächtigten – von den Wächtern nicht geschont.

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Glücklich, aber noch nicht ganz frei

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Vor einem halben Jahr haben sie das Gefängnis in Guantanamo verlassen. Während siebeneinhalb Jahren, zwei davon in Isolationshaft, durchlebten sie eine Art Vorhölle: Gefangen ohne Anklage und ohne Urteil. Jetzt, in der Schweiz, versuchen sie, diesen tragischen Lebensabschnitt hinter sich zu bringen und ein neues Leben zu beginnen. Die Brüder Arkin und Bahtiyar Mahmut, zwei…

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Minenopfer

Die Odyssee des leidgeprüften Algeriers beginnt 2001 in Pakistan, heisst es in Berichten der Menschenrechts-Organisationen Human Rights Watch (HRW) und AI. Dort engagiert sich der gläubige Naji als Angestellter einer lokalen Hilfsorganisation in Kaschmir für bedürftige Muslime und Christen.

Als er eines Nachts Nahrungsmittel und Kleider in abgelegene Dörfer bringen will, tritt er auf eine der zahlreichen Landminen. Die Explosion zerfetzt den Unterschenkel seines Beins derart, dass es die Ärzte in einem Spital von Lahore nicht mehr retten können.

Nach mehrmonatiger Rehabilitation macht er sich, ausgestattet mit einer Beinprothese, auf den Weg nach Peshawar im Norden Pakistans, um einen Landsmann zu besuchen. Dort verhaftet ihn die pakistanische Polizei ohne Angabe von Gründen und übergibt ihn den amerikanischen Truppen, die ihn nach Guantanamo schaffen.

Dort wird er, laut seinen Anwälten, ohne Anklage und Prozess, acht Jahre lang eingesperrt und gefoltert. Man wirft ihm vor, einer radikal islamistischen Bewegung anzugehören. Laut den USA ist sein freiwilliges Engagement in Pakistan nur Tarnung gewesen.

2008 appelliert Naji an die humanitäre Tradition der Schweiz. Die USA hatten ihn als «cleared for release» (abgeklärt für eine Freilassung) klassiert. «Das ist eine politisch korrekte Bezeichnung dafür, dass der Gefangene nicht mehr als Feind der USA betrachtet werden kann, ohne offiziell die Unschuld zugeben zu müssen», sagt die Juristin Andrea J. Prasow von Human Rights Watch.

Die Schweizer Asylbehörden, die Najis Aufnahmegesuch in der Folge ablehnen, stützen sich bei ihrem Entscheid auf die Informationen, die sie aus Washington erhalten, und die den Algerier als gefährlichen Kämpfer bezeichnen. Ein Entscheid, der – wie erwähnt – weder die Menschenrechts-Organisationen noch das Bundesverwaltungsgericht überzeugt.

Angst vor Freiheit in Algerien

Als die Schweizer Richter am 10. Dezember 2009 Najis Rekurs gutheissen, wird dieser in Guantanamo immer noch festgehalten. Aber sieben Monate später schaffen ihn die USA nach Algerien aus. «Weil er sich vor einer Festnahme und Folter fürchtete, wäre er lieber im weltweit berüchtigten Gefangenenlager geblieben, als in sein Land gebracht zu werden», erzählt Rachid Mesli, Direktor der Alkarama-Foundation. Die in Genf beheimatete Nichtregierungs-Oorganisation engagiert sich für die Menschenrechte in arabischen Ländern.

Die Befürchtungen des ausgeschafften Guantanamo-Häftlings Nr. 744 sollten sich bewahrheiten: In der algerischen Hauptstadt Algier angekommen, wird er am 19. Juli 2010 bereits auf dem Flughafen vom militärischen Geheimdienst festgenommen, an einen geheimen Ort gebracht und verhört – trotz der Garantien, die Washington zuvor von der algerischen Regierung erhalten hatte.

Dank Interventionen der Rechtsanwältinnen und des öffentlichen Drucks, den die Menschenrechts-Organisationen aufbauten, wird Naji nach 20 Tagen aus der geheimen Gefangenschaft in seine Herkunftsstadt Batna entlassen. «Von dort aus musste er aber periodisch in einer Militärkaserne vorsprechen. Er stand unter permanenter Überwachung des algerischen Geheimdienstes DRS», sagt Rachid Mesli.

Im Januar 2012 wird Naji erneut verhaftet. Für die Anklage seien keine neuen Beweise geliefert worden, versichert Anwältin Hassiba Boumerdassi. «Wir warten immer noch auf einen Rekursentscheid. Wenn die dreijährige Strafe bestätigt wird, werden wir versuchen, eine Freilassung aus gesundheitlichen Gründen – er braucht eine neue Bein-Prothese – zu erwirken. Das Gesetz sieht diese Möglichkeit vor, wenn die Hälfte der Strafe verbüsst ist.»

Najis Schicksal ist kein Einzelfall. Alle ehemaligen Guantanamo-Gefangenen, die später in Algerien landeten, wurden vom Geheimdienst festgenommen: Einige seien nach mehreren Verhören freigelassen worden, andere warteten auf ein Urteil, sagt Katie Taylor von der britischen NGO Reprieve, die sich für das Recht der Guantanamo-Gefangenen engagiert. 

Die algerische Botschaft in Bern hat auf die Fragen von swissinfo.ch zum Fall von Naji nicht geantwortet, auch nicht zur Politik der Integration ehemaliger Guantanamo-Häftlinge in Algerien.

Das von der Administration Bush ins Leben gerufene Gefängnis von Guantanamo (Kuba) hat im Januar 2002 die ersten Gefangenen aufgenommen, die in Afghanistan festgenommen wurden.

Laut den amerikanischen Behörden wurden dort im Rahmen des «Kampfes gegen den Terrorismus» insgesamt 779 Personen gefangen gehalten. Bis heute wurden nur sieben durch eine «militärische Kommission» verurteilt. Die grosse Mehrheit war nie formell durch ein Gericht angeklagt worden.

Im Januar 2009, zwei Tage nach seiner Amtseinsetzung, hatte Präsident Barack Obama ein Dekret zur Schliessung des Gefangenenlagers auf Ende 2009 unterzeichnet.


Heute werden immer noch 166 Personen festgehalten. Die meisten von ihnen kommen aus Yemen. Die Administration Obama beurteilt 86 von ihnen als «freilassungsfähig», was aber nicht heisst, dass sie freie Bürger sind.

Einige Länder weigern sich, ehemalige Guantanamo-Gefangene aufzunehmen. In andern Ländern riskieren Freigelassene, gefoltert zu werden. Und wieder andere Regionen werden als instabil erachtet.

Als Zeichen des Protests sind rund hundert Gefangene vor einigen Monaten in einen Hungerstreik getreten. Die Militärbehörde hat inzwischen bei 30 von ihnen eine Zwangsernährung angeordnet. «Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hat sich darüber beklagt», sagt dessen Sprecher Alexis Heeb gegenüber swissinfo.ch.

2010 hat die Schweiz drei ehemalige Gefangene aufgenommen, nachdem sie zuvor mehrmals die Unvereinbarkeit des Gefängnisses mit dem Internationalen Recht kritisiert hatte.

Die Auswahl wurde auf Grund der von den USA übermittelten Dossiers sowie eines Besuchs in Guantanamo durch eine Delegation von Vertretern der Eidgenossenschaft und der Kantone vorgenommen, sagt Guido Balmer, Sprecher des Departements für Justiz und Polizei. Das Asylgesuch zweier weiterer ehemaligen Gefangenen ist immer noch beim Bundesamt für Migration (BfM) pendent.     

Wer ist verantwortlich?

Die Schliessung des umstrittenen Gefängnisses gehört zu den Prioritäten der Administration Obama. Einige ehemalige Gefangene sind aber auch nach dem Transfer in andere Länder nicht vor Retorsionen geschützt.

Welche Verantwortung übernehmen die USA und welche Massnahmen haben sie getroffen, um die zu Unrecht während Jahren gefangen gehaltenen Menschen in ihrer neuen Umgebung vor weiteren Rechtsverletzungen zu schützen? «No comment», lautet die Antwort der amerikanischen Botschaft auf die Fragen von swissinfo.ch.

Die bilateralen Verträge über die Transfers der ehemaligen Gefangenen seien vertraulich, erklärt Andrea J. Prasow von Human Rights Watch. «Die amerikanische Rechtspraxis verlangt aber ein Monitoring ihrer Situation. Washington will wissen, wo sich die ehemaligen Gefangenen befinden, was sie machen, ob sie das erste Aufnahmeland verlassen haben und vor allem, ob sie sich etwas zu Schulden kommen lassen.»

Gastland Schweiz

Auf der Basis eines Vertrags mit Washington hat die Schweiz 2010 aus humanitären Gründen drei ehemalige Gefangene aufgenommen, ein uigurisches Brüderpaar und einen Usbeken, deren Schicksale sich als wesentlich gnädiger erweisen sollten, als jene der erwähnten Leidesgenossen.

Die uigurischen Brüder Arkin Mahmut, I-Nr. 103, und Bathiyar Mahmut, I-Nr. 277, leben seither im Kanton Jura. Nach einem ersten Auftritt vor den Medien in der Schweiz verweigern die Beiden seither Interview-Anfragen, die sie jeden Monat dutzendfach vor allem auch von ausländischen Medien erhalten.    

Arkin und Bathiyar gehe es nicht schlecht. Aber es sei für die beiden vor allem wegen der Sprachbarrieren nicht einfach, sich in der Schweiz zu integrieren, sagt Endili Memetkerim, Präsident des Vereins Ost-Turkestan, dem rund 100 in der Schweiz lebende Uiguren angehören. Der Jüngere habe eine Zeitlang Arbeit bei einem Gärtner und danach in der Uhrenproduktion gefunden. Aber derzeit drückten beide die Schulbank, um Französisch zu lernen.

Die in Guantanamo erlittenen psychischen Verletzungen heilen schlecht. Der ältere der Beiden sei stärker traumatisiert, sagt Denise Graf von AI. «In Guantanamo hat er unbeschreibliche Erfahrungen gemacht. Weil er es wagte, die Repressionsmethoden zu bemängeln, wurde er längere Zeit in Isolationshaft gesteckt. Er leidet aber auch unter der Trennung von seiner Frau und seinen Kindern. Die Schweizer Behörden hätten eine Familien-Zusammenführung bewilligt, aber die Chinesen liessen die Ausreise nicht zu.»

Eine Rückkehr in die Heimat Ost-Turkestan komme für Exil-Uiguren nicht in Frage, «weil wir von den chinesischen Behörden als potentielle Terroristen betrachtet werden. Beim heutigen Regime würde die Todesstrafe oder langjährige Haftstrafen auf die Brüder warten», ist Endili Memetkerim überzeugt.

Vom dritten ehemaligen Guantanamo-Gefangenen in der Schweiz, I-Nr. unbekannt, weiss die Öffentlichkeit nur, dass es sich um einen gelernten Bäcker aus Usbekistan handelt. Die Behörden des Kantons Genf, wo der Usbeke 2010 aufgenommen wurde, haben absolutes Stillschweigen über die Identität und den Aufenthalt verfügt. «Man muss das Recht auf Vergessen respektieren», erklärt Caroline Widmer vom Kantonalen Justizdepartement.

779 Menschen wurden im US-Gefangenenlager Guantanamo im Rahmen des «Kampfes gegen den Terrorismus» eingesperrt. Die meisten von ihnen waren nie formell angeklagt, von einem Gericht verurteilt oder für das erlittene Unrecht entschädigt worden.

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