Schweizer Gehörlosenverband: 75 Jahre voller Widrigkeiten
Früher wurden Gehörlose in der Schweiz unter Druck gesetzt, nicht zu heiraten und im Interesse der "Volksgesundheit" keine Kinder zu bekommen. In den letzten 75 Jahre wurden Fortschritte erzielt, doch wie die Covid-19-Krise zeigt, bleiben fundamentale Herausforderungen bestehen.
«Wir wurden völlig vergessen. In der dramatischsten Phase der Pandemie hatten gehörlose Menschen absolut keinen Zugang zu lebensrettenden Informationen. Überall herrschte grosse Besorgnis», sagt Dr. Tatjana Binggeli, Präsidentin des Schweizerischen GehörlosenbundesExterner Link, gegenüber SWI swissinfo.ch.
Doch bevor wir zu aktuellen Themen kommen, machen wir eine Zeitreise zurück zum 17. Februar 1946, als sich acht Gehörlosenverbände aus der Deutschschweiz zusammenschlossen, um sich Gehör zu verschaffen. Noch im selben Jahr schlossen sich acht weitere an, darunter einer aus der Westschweiz und einer aus dem italienischsprachigen Tessin.
«Gehörlose Menschen wurden von der Gesellschaft wegen ihrer Gehörlosigkeit massiv diskriminiert. Zudem hatten sie keine eigene Stimme und wurden von hörenden Menschen kontrolliert, die als ihre Vormünder fungierten», erklärt Binggeli über einen Dolmetscher am Sitz des Verbandes in Zürich.
Die Situation für gehörlose Menschen in der Schweiz war düster. Sie galten als moralisch minderwertig – vor allem Frauen, die, so die Befürchtung, sexuell aktiv sein und – Gott bewahre! – schwanger werden könnten. Gehörlosen Männern wurde vorgeworfen, stur und jähzornig zu sein, und sie gerieten häufig in Konflikte am Arbeitsplatz, heisst es etwa in einem Buch, das der Gehörlosenbund anlässlich seines 75-jährigen Bestehens herausgegeben hat.
Es gibt keine offizielle Statistik, aber der Schweizerische Gehörlosenbund schätzt, dass in der Schweiz bei einer Gesamtbevölkerung von 8,6 Millionen Menschen rund 10’000 Gehörlose und weitere 800’000 als schwerhörig eingestufte Menschen leben.
Tatjana Binggeli sagt, die Tatsache, dass nicht einmal klar sei, wie viele Gehörlose in der Schweiz leben – weil das Bundesamt für Statistik sie nicht zählt – «ein weiteres Zeichen für die Missachtung oder Ignoranz gegenüber […] einer Minderheit in der Schweiz» sei.
Weltweit sind schätzungsweise 9% der gehörlosen Menschen Kinder. Etwa 90% der gehörlosen Kinder haben hörende Eltern.
Die meisten gehörlosen Kinder in der Schweiz lernen die Gebärdensprache in Gehörlosenschulen und gebärden miteinander auf dem Spielplatz und in ihrer Freizeit. Da es in den Anfängen keine einheitliche Schweizer Gebärdensprache gab, entstanden verschiedene Schuldialekte. Daher umfasst die Gebärdensprache in der Schweiz nicht nur die drei Landessprachen, sondern auch regionale Dialekte, die auf die verschiedenen Schulstandorte zurückgehen.
Wohlfahrts-Verbände nahmen eine grundsätzlich paternalistische Haltung gegenüber Gehörlosen ein. Sie boten Hilfe bei der Arbeitssuche an und schlichteten Streitigkeiten am Arbeitsplatz und anderswo, aber sie trauten ihnen nicht viel Selbständigkeit zu. Gehörlose Menschen wurden manchmal unter Vormundschaft gestellt und brauchten die Erlaubnis ihres Vormunds, um den Arbeitsplatz zu wechseln oder zu heiraten.
«Gehörlose Menschen wurden von Bildungsprogrammen komplett ausgeschlossen», sagte Binggeli. «Das begann in der Grundschule, wo kein Unterricht in Gebärdensprache stattfand, und zog sich durch ihr ganzes Leben. Mit diesem Problem sind wir auch heute noch konfrontiert.»
Mehr
Was gehörlose Kinder brauchen
Binggeli ist eine Ausnahme. Gehörlos geboren, besuchte sie verschiedene Gehörlosenschulen, bevor sie mit 17 Jahren auf ein Gymnasium in Bern mit hörenden Schülern wechselte. Der Schuldirektor glaubte jedoch nicht, dass ein behinderter Mensch – denn so sah der Direktor die Gehörlosen – an einer Regelschule lernen könne. Binggeli wurde rausgeschmissen und auf ein anderes Gymnasium versetzt. Sie bestand ihren Abschluss, studierte anschliessend Medizin und Biomedizin und arbeitete in verschiedenen Krankenhäusern. Später promovierte sie als erste Gehörlose in der Schweiz in wissenschaftlicher Medizin mit summa cum laude.
Gebärdensprache verboten
Die ersten Gehörlosenschulen in der Schweiz entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf private Initiative hin. Ziel war es, den Gehörlosen eine Schulbildung, eine religiöse Erziehung und eine Berufsausbildung zu ermöglichen.
Im Jahr 1880 wendete sich das Blatt. Auf einem Kongress in Mailand diskutierten Pädagogen und Ärzte aus ganz Europa – fast alle hörend – darüber, wie Gehörlose zu erziehen seien. Sie beschlossen, dass die Gebärdensprache aus den Klassenzimmern verbannt und Gehörlosen das Lippenlesen und Sprechen (Oralismus) beigebracht werden müsse. Infolgedessen war das Gebärden in Schweizer Klassenzimmern mindestens bis in die 1970er Jahre verboten, wobei Zuwiderhandlungen oft mit körperlichen Strafen geahndet wurden.
US-Bewegung
Langsam begannen sich die Dinge jedoch zu ändern. 1960 kam ein Schweizer Delegierter, der den 3. Weltkongress der Gehörlosen in Wiesbaden besucht hatte, zu dem Schluss, dass sich die Betroffenen in der Schweiz zu sehr auf «hörende Helfer» verlassen. Im selben Jahr stellte ein Schweizer Rundbrief für Gehörlose fest, dass «in Deutschland oder Italien ein grosser Teil der harten Lobbyarbeit von Gehörlosen selbst gemacht wurde».
Während viele in der Schweiz stolz darauf waren, dass sie sich auch ohne Gebärdensprache ausdrücken konnten, wurde in den 1970er Jahren auf internationalen Kongressen zunehmend die Gebärdensprache verwendet. Manche der Schweizer Delegierten konnten dem Geschehen nicht folgen.
Mehr
Newsletter
Das Herz der Gehörlosenbewegung war zu dieser Zeit das Gallaudet College (heute Universität) in Washington, DC. Gegründet 1864 – und kürzlich Schauplatz der Netflix-Reality-Serie «Die Gehörlosen-Uni» – ist es die erste und einzige Institution der Welt für die höhere Bildung von Gehörlosen und Schwerhörigen.
«Ein paar gehörlose Schweizerinnen und Schweizer verbrachten in den 1970er und 1980er Jahren Zeit in Gallaudet und erlebten den freien Gebrauch der Gebärdensprache in einer Gesellschaft, in der für Gehörlose alles möglich war», sagt Binggeli, die Gallaudet ebenfalls besucht hat. «Sie waren sehr beeindruckt von dem, was sie sahen. Als sie in die Schweiz zurückkehrten, arbeiteten sie hart daran, das Gleiche hier zu erreichen, einschliesslich einer grösseren Akzeptanz der Gebärdensprache.»
Errungenschaften
Seitdem hat der Gehörlosenbund bedeutende Erfolge erzielt, darunter die Entwicklung von Bildungsprogrammen, Seminaren und Kursen von Gehörlosen für Gehörlose. Er ist auch professioneller und schlagkräftiger geworden und engagiert sich stark für die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprache und die Interessen der 10’000 Gehörlosen und 800’000 Schwerhörigen des Landes ein.
Und was hat die Regierung getan? «Leider nicht sehr viel», so Binggeli. Das Behinderten-Gleichstellungsgesetz sei zwar 2004 in Kraft getreten, aber es sei teilweise sehr schwammig formuliert, und es gebe immer wieder endlose Diskussionen darüber, wer die Kosten tragen solle: die Gemeinden, die Kantone oder der Bund.
«Die Schweiz ist immer noch ein sehr sozialkonservatives Land – im Vergleich zu fortschrittlicheren Ländern gibt sie kein sehr gutes Bild ab», sagt sie.
Obwohl Massnahmen wie die Alertswiss-AppExterner Link Gehörlose über Sirenen oder per Radio gesendeten Notfall-Warnungen informieren, hat die Pandemie die Grenzen dieses Ansatzes aufgezeigt – ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit des Lippenlesens beim Tragen von Masken.
«Die Coronavirus-Pandemie ist ein wirklich gutes Beispiel dafür, wie hoch die Barrieren für wichtige Informationen sind. Wir wurden völlig vergessen», sagt Binggeli. «Wir haben uns an die Regierung gewandt und gefordert, dass Gebärdensprach-Dolmetscher für öffentliche Informationen zur Verfügung gestellt werden. Und sehr schnell erschienen Dolmetscherinnen und Dolmetscher bei allen Pressekonferenzen der Regierung im Fernsehen.»
In der Schweiz wurde noch nie eine gehörlose Person in das Bundesparlament gewählt, anders als in vielen anderen Ländern, zum Beispiel Shirley Pinto in Israel im vergangenen Monat. Binggeli sagt, sie habe mit 20 Jahren in die Politik gehen wollen, sei aber daran gehindert worden.
«Politische Partizipation für Gehörlose ist nach wie vor unmöglich. Es gibt immer noch zu viele Barrieren. Wir können zum Beispiel die politischen Debatten im Parlament nicht verfolgen. Das politische Bewusstsein wächst langsam, und es gibt zwar inzwischen Dolmetscherinnen und Dolmetscher bei Parteiversammlungen, aber das bleibt die Ausnahme. Sie sollten für jede und jeden selbstverständlich zur Verfügung stehen. Die Leute sollten nicht fragen müssen: ‹Kommt jemand [Gehörloses]? Müssen wir einen Dolmetscher bereitstellen?› Ein Dolmetscher sollte einfach da sein.»
Werden wir also noch zu unseren Lebzeiten eine gehörlose Bundesrätin sehen? «Das würde ich sehr gerne sehen. Als Gehörlose in die Politik zu gehen, war schon immer mein Traum, aber im Moment ist es einfach nicht machbar. Aber dass dieser Traum eines Tages Wirklichkeit wird – dafür kämpfe ich jetzt und für die nächste Generation.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Diskutieren Sie mit!