Schweizer Politiker zur Frage der alternden Gesellschaft
Was passiert, wenn immer mehr Menschen Pflege brauchen, es aber zu wenig Betreuende gibt? Und wenn mehr Geld aus den Pensionskassen bezogen als einbezahlt wird? Die Schweizer Politiker sind sich der Herausforderungen bewusst – aber haben sie auch brauchbare Lösungen?
Die Menschen werden weltweit immer älter. Betrug die Lebenserwartung der Männer im Jahr 1900 noch 46 Jahre, so waren es im Jahr 2000 schon 80 Jahre. Und die Baby-Boomers, zwischen 1946 und 1964 geboren, sind bereits im Rentenalter oder stehen kurz davor.
Eine Menge Fragen werden angesichts solcher Zahlen immer wichtiger. Sie drehen sich um die physische und mentale Gesundheit über soziale Integration und Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz bis hin zur Bewältigung der Betreuung von Verwandten, die weit weg wohnen.
Im Allgemeinen befassen sich die Schweizer Politiker mit zwei allumfassenden Problemen, die angegangen werden müssen: mit den Bedürfnissen der alternden Generation in Sachen Gesundheitspflege und den nötigen Mitteln der Sozialversicherungen zu deren Unterstützung.
Was braucht es, um die demografische Zeitbombe zu entschärfen? swissinfo.ch sprach mit vier Parlamentariern aus vier verschiedenen Parteien und Kantonen, die in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats sitzen.
Demenz
Für Jean-François Steiert hat eine nationale Demenzstrategie Priorität. Denn die Zahl der Demenzkranken in der Schweiz, die heute bei gut 110’000 liegt, dürfte bis ins Jahr 2030 auf 200’000 ansteigen, und 2050 könnten es bereits 300’000 sein. Eine Entwicklung, die alternative Betreuungsformen hervorbringt, wie etwa kleine Wohngruppen oder Pflegeheime im Ausland.
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Psychischen und physischen Bedürfnissen nachkommen
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2008 reichte Steiert eine Motion zur Schaffung einer nationalen Demenzstrategie ein. Auch wenn der Vorstoss anfänglich zurückgewiesen wurde, veröffentlichte die Regierung Ende 2013 doch ihre erste Demenzstrategie 2014-2017. 2009 beliefen sich die Kosten im Zusammenhang mit Demenz auf 6,9 Mrd. Franken. «Spricht man über Krebs oder andere Krankheiten, dann gehen zwischen 80 und 90% der…
Wie Steiert sagt, braucht es in Zukunft neue Wohnangebote für ältere Menschen. Viele von ihnen werden zu Hause betreut, entweder von Familienangehörigen oder durch die spitalexterne Betreuung SpitexExterner Link. Der Schritt in ein Pflegeheim findet oft erst statt, wenn die gesundheitlichen Probleme zunehmen, insbesondere die Demenz.
Von rund 1,4 Millionen Personen (17% der Bevölkerung) im Alter von 65 oder mehr lebten 2012 gut 121’000 in einem Pflegeheim, wo sie durchschnittlich 2,6 Jahre blieben. Und Patienten zwischen 75 und 84 sind laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) für 20% der Tage verantwortlich, die in Schweizer Akutspitälern verbracht wurden.
Renten
2010 kamen in der Schweiz auf 100 erwerbstätige Personen zwischen 20 und 64 deren 27, die über 65 waren und Geld aus der Altersvorsorge und den Pensionskassen bezogen. Gemäss Schätzungen des BFS dürften 2060 auf 100 Erwerbstätige bereits 53 Rentenbezüger kommen. Nach Ansicht von Yvonne Gilli liegt also auf der Hand, dass diverse Probleme anstehen und etwas geschehen muss.
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In ältere Menschen investieren
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Für Yvonne Gilli von der Grünen Partei der Schweiz sind die grössten Probleme im Zusammenhang mit der alternden Gesellschaft «ganz klar die Kosten». Ihrer Meinung nach braucht es eine Reform des Rentensystems. «Wir müssen dafür sorgen, dass ältere Menschen ein anständiges Einkommen haben.»
Gleichzeitig müssten die hohen Krankheitskosten für ältere Leute vom Gesundheitssystem getragen werden, sagt Gilli, die sowohl Pflegefachfrau wie auch Medizin studiert hat und als Ärztin im Kanton St. Gallen arbeitet.
Aber das föderalistische System der Schweiz, das den Kantonen viele Kompetenzen gibt, «erschwert die Koordination der Renten sowie der Kosten und Investitionen im Gesundheitswesen», sagt sie.
Laut Gilli sollte das Rentensystem flexibler gestaltet werden. Man müsste zwischen Leuten, die manuell arbeiten und solchen, die im Büro sitzen, unterscheiden, meint sie. «Körperliche Arbeit ist hart, die Menschen altern schneller und verdienen weniger.»
Der Arbeitsmarkt müsste bei der Bewertung und Anstellung älterer Angestellter auch flexibler sein, sagt sie. «Wenn es auf dem Arbeitsmarkt so weitergeht, wird es auch für gut ausgebildete Leute immer schwieriger zu arbeiten, denn Erfahrung wird zu wenig geschätzt.»
Gilli ist der Meinung, dass die «Finanzierung nur mit Solidarität in der Gesellschaft gewährleistet werden kann, dabei sind unterschiedliche Leute und Gruppen gefordert».
Die Alterung der Gesellschaft betreffe alle in der Schweiz und erfordere Zugeständnisse und Kompromisse. «In 20 Jahren wird die Situation für uns alle anders sein, und wir müssen dies finanzieren», sagt Gilli. «Die Frage ist nur wie.»
«Wo sehen Sie sich im Alter von 75?»
Yvonne Gilli: «Sicher nicht in einem Altersheim. Das ist wohl eine typische Antwort meiner Generation. Würde ich aber zum Beispiel an Demenz leiden, dann müsste ich in einer Institution betreut werden. In den meisten Fällen jedoch wird eine 75-jährige Frau selbständig zu Hause leben und diese Autonomie auch schätzen. Wahrscheinlich in einer gemischten Umgebung mit jungen, mittelalterlichen und betagten Leuten.»
Und dennoch: «Meine Schwiegermutter ist über 90 und noch immer zu Hause. Das ist exakt das, was sich alle wünschen. So alt zu sein, ist jedoch nicht so toll. Man ist völlig alleine, alle Freunde sind gestorben, und die Kinder und Grosskinder sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Die Verluste, die man infolge eines sehr langen Lebens erfährt, sind dramatisch.»
Gesundheitsminister Alain Berset arbeitet zur Zeit an einer umfassenden Revision des Schweizer Sozialversicherungs- und Rentensystems. «Altersvorsorge 2020Externer Link» wurde im November 2013 in ein Konsultations-Verfahren geschickt. Ein Entwurf unter Berücksichtigung eingegangener Vorschläge soll bis Ende 2014 dem Parlament vorgelegt werden (s. Infobox).
Länger arbeiten
Jürg Stahl ist für eine der zentralsten Systemänderungen, nämlich die Erhöhung des Rentenalters für Frauen.
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Das Rentenproblem
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Dennoch steht die Schweiz vor sozialen und politischen Problemen. Da die Zahl alter Menschen zunimmt und die Geburtenrate zurückgeht, nimmt die Zahl der Erwerbstätigen, welche in die Sozialversicherungen einzahlen, ab. Und da die Baby-Boomer bereits ein Rentnerdasein führen und kurz davor stehen, wird die Zahl der Rentenbezüger drastisch ansteigen. Dies sei die grösste Herausforderung für…
Bersets Gesetzesrevision dürfte es nicht leicht haben. Während die Sozialdemokraten standfest gegen die Anhebung des Rentenalters für Frauen sind, sprechen sich die Gewerkschaften gegen eine Senkung der Renten aus, und der Schweizerische Arbeitgeberverband kämpft gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.
In den letzten Jahren gingen Versuche, das Rentensystem zu revidieren, jeweils bachab: 2004 und 2010 sprach sich das Stimmvolk dagegen aus, 2010 sagte auch das Parlament Nein. Ein Knackpunkt war jeweils die Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65. Und 2010 verwarfen die Stimmberechtigten eine Senkung des Umwandlungssatzes der Renten.
Solidarität
Christian Lohr setzt sich für mehr Solidarität ein. Dazu müssten die Leute auch Opfer zugunsten anderer bringen. Lösungen sollten seiner Meinung nach fair sein – für Junge wie auch für Alte.
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Die Lasten teilen
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Um vorwärts zu machen, sei es nötig, ein Gesamtkonzept zu haben, das für alle Generationen fair sei, meint der Parlamentarier aus dem Kanton Thurgau. Die Last der künftigen Generation zu überlassen, sei keine Option. Die älteren Menschen dürften auch nicht nur als finanzielle Bürde für die Gesellschaft angesehen werden. Und die jüngere Generation müsse auch…
Lohrs Haltung widerspiegelt auch jene von Pro Senectute SchweizExterner Link, der grössten Organisation im Land, die sich für die Bedürfnisse älterer Menschen einsetzt. Laut der Organisation werden bis 2060 rund eine Millionen Menschen im Alter von 80 und darüber in der Schweiz wohnen (11% der Bevölkerung). Heute sind es 400’000 (5%).
Im April 2014 lancierte Pro Senectute eine nationale Kampagne mit dem Slogan «Alles hat seine ZeitExterner Link«. Sie hat zum Ziel, die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass ältere Menschen nicht als finanzielle Bürde, sondern als wertvolle Mitmenschen betrachtet werden sollten.
Pro Senectute zeigt das Dilemma der heutigen Politiker auf: «Die Fokussierung auf Pflegekosten und Rentenreform lässt vergessen, dass alle Generationen zu unserer Gesellschaft gehören.» Dies «bedroht die gesellschaftliche Solidarität».
Altersvorsorge 2020
Zur Revision von Innenminister Alain Berset gehören u.a. folgende Punkte:
– Anhebung des Rentenalters für Frauen von heute 64 auf 65 – wie bei den Männern.
– Erhöhung des Alters für Frühpensionierung. Zudem sollen die Leute ermutigt werden, auch nach 65 noch zu arbeiten.
– Senkung des «Mindestumwandlungssatzes» der zweiten Säule von 6,8% auf 6%. Dies bedeutet, dass die Renten gekürzt würden.
– Arbeitnehmer sollen bereits ab dem Alter 18 und nicht wie heute erst ab 25 in die zweite Säule einzahlen.
– Die Mehrwertsteuer für Waren und Dienstleistungen soll in zwei Etappen von 8% auf 10% erhöht werden.
Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein
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