«Wir sind die Botschafter schweizerischer Ausdauer»
Die grösste Schweizer Schule im Ausland mit 1400 Schülern befindet sich in Mexiko. Nun feiert sie den 50.Geburtstag. Generaldirektor Jörg Wiederbach betont, dass ihr Bildungsmodell die Schüler lehrt, zu argumentieren und Selbständigkeit zu entwickeln.
swissinfo.ch: Mexiko ist das einzige Land ausserhalb Europas mit 3 Schweizer Schulen. Wie erklären sie sich diesen Erfolg in 50 Jahren?
Schweizer Schule in Mexiko
Die erste Schweizer Kolonie etablierte sich in Mexiko vor der Revolution von 1920. 1927 wurde in Mexiko City der Schweizer Sportclub mit 250 Mitgliedern gegründet.
1964 lud ein Lehrer, bekannt als Señor Mollet, der damals an der Deutschen Schule unterrichtete, seine Landsleute ein, in Mexiko eine Schweizer Schule zu gründen. Im Gegensatz zu früheren Anläufen fand seine Initiative Anklang. Dieses Jahr feiert die Schule ihr 50-Jahr-Jubiläum. Mit 1400 Schülern, in 3 verschiedenen Zweigstellen: Ciudad de México, Cuernavaca und Querétaro, ist sie die grösste Schweizer Schule im Ausland.
Jede Schweizer Schule im Ausland hat einen Patenkanton, im Falle Mexikos ist es der Kanton Zürich.
Jörg Wiedenbach: Ich glaube, dass der Erfolg der Schweizer Schule Mexikos der Qualität des Unterrichts und der Lehrerschaft zu verdanken ist.
Zu Beginn betrug der Anteil von Schweizern 30% und nahm mit den Jahren ab, um sich bei 25% einzupendeln. Doch die Tatsache, dass grosse Schweizer Unternehmer immer weniger Auslandschweizer einstellen und der Weitblick früherer Schulleitungen, in den vergangenen 20 Jahren Zweigstellen in Guernavaca und Querétaro zu eröffnen, führten zu diesem Wachstum.
Gegenwärtig sind nur 12% unserer Schüler schweizerischer Abstammung, weitere 10% kommen aus Ländern wie Frankreich und Deutschland. Die grosse Mehrheit sind Mexikaner.
Die Schweizer Schulen sind Botschafter eines Produkts namens «Bildung», aber auch unserer Kultur. Dieser Auftrag ist im Gesetz für die Präsenz schweizerischer Bildung im Ausland festgeschrieben.
swissinfo.ch: In Mexiko gibt es viele ausländische Schulen mit gutem Ruf. Worin besteht die Einzigartigkeit der Schweizer Schule?
J.W.: Die Schweizer Schule ist nicht die beste, denn es gibt viele gute Schulen. Doch für einige Familien ist sie die interessanteste und beste Alternative. Ihre grösste Stärke ist ihr Lehrkörper und ihr Professionalismus. Gegenwärtig sind 50% der Lehrer Schweizer oder sonstige Ausländer, die übrigen 50% sind Mexikaner. Ich finde das eine gute Mischung.
Uns unterscheidet auch die Überzeugung, Kinder zum Nachdenken anzuspornen, anstatt Texte auswendig zu lernen. Wir muntern sie zum logischen Denken auf und bilden ihre Fähigkeit aus, autonom zu arbeiten und selbständig zu werden.
Weiter werden die Schüler der höheren Mittelstufe angehalten, Forschungsfähigkeiten zu entwickeln. Vor der Matura muss jeder Schüler während zwei Semestern in Begleitung eines Beraters forschen und eine Monografie verfassen, die er nach Abschluss vor der Öffentlichkeit verteidigt.
Auch Sprachen sind immer präsent. Die Kinder lernen seit dem Kindergarten Deutsch, ab der ersten Primarklasse Spanisch, ab der fünften Englisch und während der Mittelschule fakultativ Französisch und später sogar Mandarin.
Ich glaube, dass all dies das Label «Swissness» ausmacht und den Schülern Werkzeuge zur Verfügung stellt.
swissinfo.ch: Das duale Bildungssystem, das den Schüler über die Lehre mit der Wirtschaft in Kontakt bringt, ist der Eckpfeiler des Schweizer Bildungssystems und einer der Gründe für die niedrige Arbeitslosigkeit. Mexiko macht in dieser Richtung Fortschritte. Welche Rolle wird diesbezüglich die Schweizer Schule übernehmen?
J.W.: Gegenwärtig sind wir an diesem dualen System nicht beteiligt. Es gibt jedoch ein Projekt der Schweizer Botschaft und von Schweizer Unternehmen in Zusammenarbeit mit dem Sekretariat für öffentliche Bildung (SEP) Mexikos. Sie soll grundsätzlich nach Abschluss der Mittelschule beginnen. Gegenwärtig ist Mexiko das einzige lateinamerikanische Land, das (seit 2015) über ein Bildungsgesetz verfügt, das duale Bildung als höhere Bildungsstufe anerkennt. Man will v.a. die Erfahrung und die Kenntnisse der Unternehmen nutzen. Die Schweizer Schule schliesst nicht aus, sich in Zukunft mit Kursen zu beteiligen, allerdings nicht während des normalen Unterrichts, sondern z.B. mit Abendkursen.
swissinfo.ch: Die berufliche Ausbildung ist in Mexiko ganz anders als in der Schweiz…
J.W.: Das stimmt. Die grosse Herausforderung für Mexiko besteht darin, dass die Gesellschaft glaubt, man müsse einen Universitätsabschluss haben, um anerkannt zu werden. Es wird viel brauchen, um dieses Vorurteil zu überwinden.
Ein ideologischer, ein kultureller Wandel innerhalb der Gesellschaft ist hier notwendig. Man glaubt, wer kein Lizentiat hat, sei niemand. In der Schweiz gibt es sehr gute Fachleute, die keinen Universitätsabschluss haben.
Ich selbst habe eine 3-jährige Lehre bei einer Bank abgeschlossen. Darauf habe ich an einer Fachhochschule Wirtschaft und Betriebswirtschaft studiert und abgeschlossen. Damals konnte man noch nicht bis zum Doktorat weiterstudieren, doch heute besteht diese Möglichkeit. Meine drei Jahre Bankenlehre sind Teil dieses dualen Systems.
swissinfo.ch: Wie lange leben sie schon in Mexiko?
J.W.: Ich bin schon 21 Jahre hier.
swissinfo.ch: Mexikaner und Schweizer sind ganz verschieden. Wie haben sie sich hier zurecht gefunden?
J.W.: Ich habe immer für Schweizer Unternehmen gearbeitet und deshalb, glaube ich, war die Anpassung für mich nicht schwierig. Doch ich habe Leute gekannt, die nach einem halben Jahr wieder gegangen sind, weil sie sich nicht gewöhnen konnten.
Ich selbst habe in den Unternehmen, wo ich gearbeitet habe, u.a. bei Schindler, immer loyale und fähige Leute getroffen. Aber ich weiss, dass es schwieriger gewesen wäre, wenn ich selbständig oder für ein ausschliesslich mexikanisches Unternehmen gearbeitet hätte.
Mit unseren Schweizer Lehrern versuchen wir zusammen mit unseren Schülern Werte, wie Pünktlichkeit, Ausdauer, Exaktheit und Liebe fürs Detail, die für Schweizer Firmen typisch sind, zu pflegen.
swissinfo.ch: Lateinamerikanische Länder sind weniger strukturiert als die Schweiz. Doch auch von ihnen kann man immer etwas lernen. Was könnte das schweizerische Bildungssystem vom mexikanischen lernen?
J.W.: Die mexikanische Kultur besitzt ein angeborenes Talent zur Improvisation, was uns Schweizern fehlt. Unsere Gesellschaft ist starr, es fällt ihr schwer, sich anzupassen, oder ist unzufrieden, wenn sich etwas in ihrem Umfeld verändert. Die Fähigkeit zur Improvisation und Probleme zu meistern, würde uns nicht schaden.
Schweizer Bildungssystem
In der Schweiz gehört die Bildung zu den Kompetenzen der 26 Kantone. Obwohl 21 Kantone ernsthafte Anstrengungen zur Harmonisierung unternehmen, geniesst jeder Kanton für die Gestaltung seiner Lehrprogramme grosse Freiheit.
Das System unterteilt sich in:
Primar- und Sekundarschule
Sie ist obligatorisch und dauert vom Kindergarten bis zur ersten Hälfte der Sekundarschule 9 Jahre. Anschliessend wählen die Schüler zwischen einer Berufsausbildung oder der Beendigung der höheren Mittelschule.
Berufslehre
Im Alter von 16 Jahren beginnt die 2.Stufe der Sekundarschule von 3-4 Jahren. Zwei Drittel der jungen Schweizer wählen eine Berufsausbildung und verbringen den Grossteil der Zeit in Betrieben, wo sie für ein Handwerk oder einen Beruf ausgebildet werden und beim Abschluss ein Diplom erhalten.
Akademische Ausbildung
25% der Jugendlichen besuchen die nicht obligatorische höhere Mittelschule mit einer rigorosen Grundausbildung. Der Maturabschluss mit zwischen 19-20 Jahren ermöglicht ihnen den Zutritt zu einer Universität oder technischen Hochschule.
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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