Ökoquartiere bringen neue Lebensweise
Immer mehr Schweizer Gemeinden setzen sich für Nachhaltigkeit ein, indem sie auf Brachen Ökoquartiere aufstellen. Damit gestalten sie die Stadt und das Leben von morgen.
Es ist unmöglich, nicht an Jörg Müllers Bildermappe «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder: die Veränderung der Landschaft» von 1974 zu denken, wenn man von der aktuellen Entwicklung von Ökoquartieren im ganzen Land spricht.
Der Grafiker hatte in sieben Bildtafeln gezeigt, wie sich ein imaginäres Schweizer Dorf in nur zwanzig Jahren verändert und in rasendem Tempo zu einer Stadt entwickelt. Ein halbes Jahrhundert später gibt ihm die Geschichte immer noch Recht. Die Urbanisierung frisst sich weiter durchs Land.
Aufgrund nachhaltiger Entwicklung sind jedoch die Flächen, die derzeit in Meyrin, Lausanne, Zürich oder anderswo geräumt, gereinigt und dann neu gestaltet werden, von neuen Parametern abhängig. Etwa die verbrauchten Energieeinsparungen und die Stärkung der sozialen Bindung der Bewohner.
Von den Bewohnerinnen und Bewohnern wird fast ausnahmslos erwartet, dass sie per Velo oder zu Fuss zur Arbeit gehen. Autos sind unerwünscht. Diese werden ausserhalb der Ökoquartiere oder in Tiefgaragen versteckt. Nichts wird dem Zufall überlassen, um diese neue Art des Zusammenlebens zu gestalten, weniger zu konsumieren und besser zu atmen.
Nahe der Erde
Pierre-Alain Tschudi, Bürgermeister von Meyrin (25’000 Einwohner), einer Gemeinde von Gross-Genf, hat zwei Tramlinien für die Bewohner des kürzlich gebauten Ökoquartierts «Les VergersExterner Link» vorgesehen. Bereits fast zweitausend Menschen wohnen dort. Bis 2020 werden weitere tausend erwartet, insgesamt umfasst die Siedlung 1350 Wohnungen in rund 30 Gebäuden. Die Philosophie von «Les Vergers» basiert auf drei voneinander abhängigen Säulen: soziale Solidarität, ökologische Verantwortung und wirtschaftliche Effizienz.
Vor siebzig Jahren war Meyrin noch ein grosses Dorf mit etwas mehr als 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern! Dann zogen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Kernforschungs-Zentrums Cern dorthin und siedelten dort, wo vorher Weideland war.
Die kommunalen Behörden wollen heute von dieser Nähe zur Natur profitieren; vor allem in Bezug auf die Ernährung der Einwohner. Sie denken dabei schwergewichtig an die Produktion und den Vertrieb von Früchten und Gemüse «intra muros», also innerhalb des Quartiers.
Bereits wurden Gemeinschaftsgärten und ein Hofladen gebaut, eine landwirtschaftliche Genossenschaft ist in Planung. «Die Stadt und das Land müssen miteinander in Einklang gebracht werden», sagte der Bürgermeister von Meyrin im vergangenen Juni auf einem Symposium, das speziell den Öko-Quartieren gewidmet war, an der Haute Ecole d’ingénierie et de gestion du canton de Vaud (HEIG) in Yverdon.
Bis zum gemeinsamen Hühnerstall
Im Gewirr der Miethäuser von «Les Vergers» wird immer noch Gras gemäht, um im Winter Futter für die Tiere zu haben. Wasser wird aus dem Grundwasser der Rhone entnommen. Dieses Ökoquartier umfasst insgesamt 16 Hektar, von denen 2,3 Hektar Gartenflächen sind.
Die Gemeinde besitzt 47% der Fläche, der Rest gehört ehemaligen Bauern. Seit vergangenem Jahr denken Vermieter und Mieter über eine gemeinschaftliche Verwaltung der Zone nach einem partizipativen System nach.
Ziel der Behörden ist es, «Les Vergers» zu einem Labor, einem Ort für Experimente und innovative Projekte zu machen. Vom «städtischen Bauernhof» bis zum «kollektiven Hühnerstall». Von der «Kinderbetreuung» bis zum «Meditationsraum». Und das alles mit «Zero Waste», also ohne Abfall. Zudem liefert ein Fernwärmenetz Wärmeenergie über eine mit Solarstrom betriebene Wärmepumpe.
Inmitten einer Metamorphose
Auch in Lausanne haben grosse Bauarbeiten begonnen. Der Name des Grossprojekts ist an sich schon eine Einladung zur Veränderung: «MetamorphoseExterner Link«. Ein gigantisches Bauvorhaben, das moderne Sportanlagen umfasst, darunter ein Fussballstadion in englischem Stil mit 12’000 Sitzplätzen, vor allem aber auch zwei Ökoquartiere, die in den kommenden Jahren entstehen werden: Das Plaines-du-Loup im Norden und das Prés-de-Vidy im Süden, nur wenige Meter oberhalb des Genfersees. In Vidy werden bis 2025 rund 2500 Einwohner und tausend Arbeitsplätze auf 14,5 Hektaren erwartet.
Das Ökoquartier Plaines-du-LoupExterner Link wird sogar noch grösser sein und bis 2030 fast 11’000 Einwohner und Beschäftigte aufnehmen. Das Stadtplanungsamt Lausanne nennt diese neuen Öko-Zwillingsquartiere bereits «Stadtteile».
Das Projekt muss vorbildlich sein und den Anforderungen der 2000-Watt-Gesellschaft entsprechen, also den durchschnittlichen Energieverbrauch in der Schweiz um ein Drittel unterbieten. Die Stadt Lausanne plant und arbeitet bereits seit über zehn Jahren an der Plaines-du-Loup. Die ersten Ausschreibungen wurden 2015 durchgeführt. Anfang des Jahres sind die ersten Bagger aufgefahren.
Die ersten Mieter und Mieterinnen werden voraussichtlich in zwei Jahren einziehen können. Dann soll der Plaines-du-Loup-Park, der von Bewohnern und Bewohnerinnen gestaltet wird, den letzten Schliff bekommen. Zwei weitere Bauprojekte werden voraussichtlich innerhalb von elf Jahren beendet.
«Kein Mustermodell eines Ökoquartiers»
Wie in Meyrin haben die Einwohner auch in Lausanne ein Mitspracherecht beim Planungsprozess rund um dieses 30 Hektar grosse Projekt, in das die öffentliche Hand 239 Millionen Franken investiert, allein für die Plaines-du-Loup. Ein mobiles Büro sammelt Anfragen und Beschwerden von zukünftigen Mietern und Mieterinnen. Es wurden Treffen veranstaltet, an denen die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen sich über Themen wie Erdenergie informieren konnten.
«Es gibt kein Mustermodell eines Ökoquartiers», warnt Valéry Beaud, Mitglied der Association Ecoquartier Lausanne. Für den Umweltingenieur der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) ist das Management eines Elements wie Wasser heute entscheidend. «Es muss wieder in den öffentlichen Raum gebracht werden, zum Beispiel durch die Installation von Becken», schlägt er vor. Und es sei eine maximale soziale Durchmischung empfohlen, um eine Ghettoisierung zu vermeiden.
Auf allen Ebenen durchmischt
Im Süden Zürichs, unweit des Sees, im Stadtteil Wollishofen, entsteht auf einer Fläche von acht Hektar ebenfalls ein Ökoquartier. Der Name passt zur Topographie des Standorts: GreencityExterner Link – grüne Stadt.
Zwischen dem Wald und den Ufern der Sihl prosperierten dort einst alte Papierfabriken. Matthieu Kowalski, der an diesem Projekt für die Zürcher Firma Losinger Marazzi mitgearbeitet hat, sagt: «Die Topographie bot von Anfang an interessante Möglichkeiten, eine neue Kultur des Lebens, Arbeitens und Lebens zu fördern.» Eine S-Bahn-Station ermöglicht es bereits, die Zürcher Innenstadt in acht Minuten zu erreichen.
Wie in Meyrin und Lausanne sind ein Mix der Bewohner und Bewohnerinnen in Bezug auf Alter, Einkommen oder Berufsbildung sowie die Energieeinsparung die Eckpfeiler des gesamten Projekts. Eine Vielfalt, die sich natürlich auf allen Ebenen widerspiegeln muss. Von der Wohnung bis zum Büro. Von Geschäften bis hin zu Restaurants.
Es wird erwartet, dass in diesem Entwicklungsgebiet rund 730 Wohnungen vermietet werden und fast 3000 Menschen dort arbeiten werden. All dies verteilt sich auf dreizehn Gebäude. Geplant ist sogar ein 600-Betten-Hotel sowie eine von den örtlichen Behörden gewünschte Schule.
Getreu der 2000-Watt-Gesellschaft setzen die Entwickler und Entwicklerinnen in erster Linie auf erneuerbare Energien wie die Photovoltaik. Ein Zehntel der Parkplätze wird für Elektrofahrzeuge reserviert sein. Zwei Bereiche sind für Carsharing und 3500 Fahrräder geplant. Der grösste Teil der Arbeiten wird voraussichtlich 2021 abgeschlossen sein, aber die Büros werden voraussichtlich erst 2022 bezugsbereit sein. Was die Greencity-Schule betrifft, so sollten die ersten Klassen 2023 oder 2024 eröffnet werden.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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