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«Die Pandemie stellt unser Mobilitätsmodell in Frage»

Eine fast menschenleere Strasse in Freiburg am Ostertag: ein Vorgeschmack der zukünftigen Mobilität? Keystone / Laurent Gillieron

Flugzeuge, die nicht abheben, Home-Office, halbverlassene öffentliche Verkehrsmittel, verschobene Ferien: Die Coronavirus-Krise hat den Reiseverkehr radikal eingeschränkt und die Schwachstellen der globalisierten Welt offengelegt. Welche gesellschaftlichen Veränderungen sind im Gang?

Das neue Coronavirus Sars-CoV-2 breitete sich seit dem ersten Auftreten Ende 2019 in China als unsichtbarer Gast auf reisenden Menschen innerhalb weniger Monate auf allen Kontinenten aus. Und fast überall haben die Regierungen auf die gesundheitliche Bedrohung reagiert, indem sie so viele Menschen wie möglich nach Hause verbannten, um die Ausbreitung der Seuche zu verlangsamen.

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Es ist daher schwierig, über die Krise nachzudenken, ohne über Mobilität zu sprechen. «Es wird im Zusammenhang mit der Pandemie natürlich viel über die öffentliche Gesundheit gesprochen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Krise auch stark mit der Mobilität zusammenhängt», sagt Vincent KaufmannExterner Link, Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL). «Wenn man sich die am stärksten von der Pandemie betroffenen Gebiete in Europa und den Vereinigten Staaten ansieht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass es sich dabei in erster Linie um grosse Metropolen oder städtische Gebiete mit viel Handel und viel Mobilität handelt.»

Kaufmann nimmt unseren Anruf von seinem Garten in Genf aus entgegen. Im Hintergrund hört man Vögel zwitschern, ein Nachbar spricht während des Interviews mit ihm. «An der EPFL haben wir schnell auf Home-Office umgestellt. Es funktioniert, aber alles ist anstrengender, es dauert länger», stellt der Soziologe fest. «Und dann fiel mir eine Sache auf: Als ich mich noch mehr bewegte, waren die Reisen von einem Ort an einen anderen eine Atempause. Und selbst am Arbeitsplatz gab es zwischen den Lektionen die Möglichkeit, sich zu unterhalten, einen Kaffee zu trinken. Jetzt mache ich eine Videokonferenz nach der anderen, mein Berufsleben ist intensiver als zuvor.»

Grosse Verwundbarkeit

Wird die Krise einige grundlegende Elemente der Gesellschaft, in der wir leben, tiefgreifend verändern? «Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob und wie die Pandemie die Funktionsweise der Welt verändern wird», antwortet Kaufmann. «Sie zeigt sicherlich eine grosse Verwundbarkeit unserer Gesellschaft auf. Die Verlagerung der Produktion hat den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern, wie Medikamente und Material für die Gesundheitsversorgung, im Krisenfall erschwert. Diese Verwundbarkeit entstand durch die Mobilität, durch die niedrigen Transportkosten.»

Vincent Kaufmann ist Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL). EPFL

Obwohl es schwierig ist, die Auswirkungen einer noch andauernden Krise zu analysieren, geht der Soziologe davon aus, dass die Auswirkungen auf den Transportsektor erheblich sein werden, da einige Eindämmungsmassnahmen wahrscheinlich für lange Zeit in Kraft bleiben. «Ich denke dabei insbesondere an den öffentlichen Verkehr. In Bussen, U-Bahnen und Trams ist es praktisch unmöglich, den Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten. Das stellt die öffentlichen Verkehrsmittel selbst in Frage, und das ist sehr besorgniserregend.»

Kaufmann glaubt jedoch nicht daran, dass es auf lange Sicht eine massenhafte Rückkehr zum Auto geben wird. «Der Rückgang der Attraktivität des Autos in der Schweiz und in den nordeuropäischen Ländern, insbesondere bei jungen Leuten, ist ein Trend, der meiner Meinung nach nicht verschwinden wird. Vielmehr glaube ich, dass es eine Rückkehr zur Nähe geben wird. Die Reisen werden über kürzere Entfernungen stattfinden. Und dann gibt es angesichts der absehbaren Schrumpfung der Wirtschaft keinen Zweifel daran, dass wir in den nächsten Jahren weniger mobil sein werden.»

Die Schwierigkeit, die möglichen Auswirkungen der Pandemie vorherzusehen, ist auch darauf zurückzuführen, dass die gegenwärtige Krise in ihren Auswirkungen auf die Mobilität einzigartig ist. Es ist schwierig, Beispiele aus der Vergangenheit zu finden, auf die man sich beziehen kann, um Ähnlichkeiten zu erkennen. «Wir leben in einer beispiellosen Situation, in der manche Grundrechte ausgesetzt wurden, darunter die Bewegungsfreiheit, die in Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist», stellt Kaufmann fest.

Eine andere Mobilität

Werden einige der Instrumente zur Beschränkung der Mobilität, die zur Bekämpfung der Pandemie eingeführt wurden, auch nach der Krise weiterbestehen? Der Soziologe identifiziert zumindest ein Element, das uns in Zukunft begleiten könnte: «Ich glaube, dass Home-Office bleiben wird», sagt er. «Seit 30 Jahren prognostizieren Forscher eine breitflächige Einführung von Telearbeit, auch weil sie Lösungen für einige Probleme im Zusammenhang mit der Mobilität bietet. Jetzt erkennen sowohl Arbeitnehmende als auch Unternehmen und öffentliche Dienste, dass es funktionieren kann. Ich wäre also nicht überrascht, wenn sich Home-Office nach der Krise in vielen Sektoren verbreiten würde.»

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Eine letzte Sache möchte uns Kaufmann noch sagen, bevor er zur nächsten Videokonferenz muss. «Mobilität ist für uns heute fast gleichbedeutend mit Transport, mit Bewegung im Raum. Aber wenn man sich die Definitionen in alten Wörterbüchern, zum Beispiel aus dem 18. Jahrhundert, ansieht, dann bedeutet Mobilität geistige Beweglichkeit, die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Ideen zu jonglieren», bemerkt der Soziologe.

«Vielleicht kehren wir zu dieser alten Bedeutung zurück. In diesem Sinne habe ich nicht das Gefühl, dass die Krise uns weniger mobil gemacht hat», so Kaufmann. «Viele von uns müssen die Fähigkeit entwickeln, schnell den geistigen Horizont zu wechseln: Per Videokonferenz haben wir mit vielen Menschen Kontakt, und während wir mit Rechnungen beschäftigt sind, werden wir von unserem Kind mit einem Ball beworfen. In diesem Sinn sind wir nicht weniger mobil.»

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