Spuren aus der Zeit Sihanouks, eine Khmer-Nostalgie
Die Menschen in Kambodscha bereiten sich auf die Bestattung des Vaters der Unabhängigkeit des Königreichs der Khmer vor. Stolz oder nostalgisch entdecken sie das von ihm in den 1960er-Jahren erbaute Kambodscha wieder. Eine Epoche, zu der auch die Gebäude von Sihanouks Architekt Vann Molyvann gehören.
Vann Molyvann lebt in Phnom Penh in dem 1970 fertiggestellten Haus der Familie. Als er Anfang der 1990er-Jahre aus seinem Exil in der Schweiz zurückkehrte, fand er das Haus intakt vor.
Der Wohnsitz mit seiner kühnen Architektur ist eine Oase der Stille am Boulevard Mao Zedong, einer der von Motoren-Geknatter und Rauchschwaden geprägten Arterien in Kambodschas Hauptstadt.
«In den meisten Fällen rief Sihanouk mich zu sich und zeigte mir eine kleine Skizze und sagte zum Beispiel ‹wir werden General de Gaulle empfangen. Sie müssen einen Empfangsraum schaffen, welcher der Zahl der Gäste gerecht wird›. Ich musste mich dann jeweils gleich an die Arbeit machen, ohne Plan», erzählt der erste Architekt des unabhängigen Kambodscha, der heute 86 Jahre alt ist.
Der Reihe nach Architekt, Stadtplaner, Minister und Rektor, gehörte Vann Molyvann zu den wichtigsten Akteuren der Sihanouk-Jahre (1954-1970). Sein architektonischer Ansatz spiegelt die Vision, die der Vater der Unabhängigkeit Kambodschas für sein Königreich hatte: Eine Kombination aus traditionellen Techniken der Khmer-Zivilisation mit dem Funktionalismus von Le Corbusier, einem seiner Vorbilder.
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Gezwungenermassen Ökologe
Von der Tradition der Khmer – bäuerlich und aristokratisch – hat Vann Molyvann Elemente wie Stelzen, Backsteine und Holz übernommen, die bestens an das tropische Klima mit seiner extremen Hitze und seinen sintflutartigen Regen angepasst sind.
Dieser klimatischen Intelligenz hat Molyvann durch Stahlbeton, den Leitbaustoff der westlichen Architektur Mitte des letzten Jahrhunderts, Dauerhaftigkeit und Modernität verliehen.
Ohne minimalistisch zu sein, haben seine Gebäude dennoch nichts Überflüssiges und verschwenden keine Energie. Die Mauern aus Backstein, welche die Hitze absorbieren, sind getrennt von den Betonwänden, damit die Luft zirkulieren kann – eine natürliche Kühlung, zu der auch das Sammeln von Regenwasser beiträgt.
Der starke Sonnenschein wird durch Sonnenblenden eingedämmt. Damit kommt man in bewohnten Räumen ohne massive Klimaanlagen aus. Vann Molyvann war aufgrund klimatischer und wirtschaftlicher Notwendigkeit ein Pionier der nachhaltigen Entwicklung geworden.
Aber der führende Kopf der «Neuen Khmer-Architektur», durch dessen Werk man noch heute erkennen kann, wofür Norodom Sihanouks Kambodscha stand, inspiriert die Architekten des heutigen, aktuellen Wachstums in der kambodschanischen Hauptstadt kaum.
Geboren am 23. November 1926 in Ream in der Provinz Kampot.
Vann Molyvann erhält ein Stipendium des französischen Staates, der Kolonialmacht in Kambodscha zu jener Zeit.
Nach dem Studium der Architektur an der Ecole nationale supérieure des Beaux-Arts in Paris und Khmer-Studien an der l’Ecole du Louvre kreuzen sich seine Wege auch mit späteren Führern der Roten Khmer. 1956, zwei Jahre nach der Unabhängigkeit des Königreichs, kehrt er nach Kambodscha zurück.
Kurz nach seiner Rückkehr ernennt Prinz Sihanouk ihn zum Chef des öffentlichen Bauwesens und zum Staatsarchitekt, es ist der Beginn einer langen Karriere beim Staat, vor allem als Bildungsminister und Rektor der von ihm gegründeten Kunsthochschule.
Bei seiner Rückkehr nach Kambodscha hatte er auch seine spätere Frau Trudy kennengelernt, eine Schweizerin, die in Kambodscha für die UNO arbeitete.
In 14 Jahren hat er rund hundert Gebäude entworfen und gebaut, darunter die meisten offiziellen Bauten und Monumente der Jahre unter Sihanouk (1954-1970).
Kurz nach dem Staatsstreich von Lon Nol gegen Sihanouk 1970 flieht Vann mit seiner Familie in die Schweiz, wo er später Bürger wird und als Architekt arbeitet, bevor er eine Stelle bei der UNO antritt. Angebote und Edelsteine der Roten Khmer, die ihn einladen, nach Kambodscha zurückzukehren, lehnt er ab.
Kurz vor der Rückkehr von König Sihanouk kehrt Vann 1991 nach Kambodscha zurück. Dort baut er mit Unterstützung der Unesco die Behörde für den Schutz und das Management von Angkor und der Region Siem Reap (APSARA) auf.
Wildwuchs
Phnom Penh schaut heute auf China, imitiert dessen ungezügelte Entwicklung, die protzigen Türme. Ganz zum Leidwesen von Sim Sittho, einer 29 Jahre alten kambodschanischen Architektin, die für «Khmer Architecture Tours» arbeitet.
Die 2003 gegründete Vereinigung organisiert Führungen zu den wichtigsten Bauten der «Neuen Khmer-Architektur» und dokumentiert diese architektonische Bewegung für Architektur-Studenten in Kambodscha.
Unterwegs im Tuk-Tuk, mit dem wir den Spuren Phnom Penhs aus den 1960er-Jahren nachgehen, empört sich Sim Sittho: «Die meisten Architekten, die hier in Phnom Penh arbeiten, sind Chinesen. Sie bauen Kopien von Gebäuden, die Investoren in Luxusmagazinen gefunden haben.»
Niemand nehme Rücksicht auf die urbane Umwelt. «Im Vordergrund steht das vermeintliche Prestige solcher Türme und die Geschwindigkeit, mit der sie gebaut werden. Die chinesische Referenz ist 90 Stockwerke in 90 Tagen, ein Ziel, das man nur mit Glastürmen erreichen kann. Aber solche Gebäude sind für das tropische Klima völlig ungeeignet.»
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In die Höhe bauen
In seinem geräumigen Büro im Informationsministerium rechtfertigt der Sprecher der Regierung die Vorgehensweise. «In den 1960er-Jahren lebten in Phnom Penh nur etwa 600’000 Menschen. Heute leben hier in der Hauptstadt mehr als 2 Millionen, und der Bodenpreis steigt. Um auf die Entwicklung der Stadt zu reagieren, müssen wir heute in die Höhe bauen. Die höchsten Wolkenkratzer werden aber ausserhalb der Stadt entstehen. Die wenigen Türme, die es bisher im Stadtzentrum gibt, haben nur 40 Stockwerke», sagt Khieu Kanarith.
Und Vann Molyvann erklärt: «Zu meiner Zeit war es unmöglich, Architektur und Stadtplanung als speziellen, von anderen Bereichen der Gesellschaft abgetrennten Sektor zu betrachten. Heute gibt es eine völlige Trennung zwischen Städtebau, Raumplanung und den Bevölkerungen – im Gegensatz zu dem, was ich während meiner Jahre im Exil in der Schweiz hatte sehen können.»
Der Architekt verweist zudem auf den Aufkauf von Land und Boden, von dem Tycoons aus Kambodscha oder dem Ausland profitierten – und den damit verbundenen Zwangsräumungen, vor allem unter ethnischen Minderheiten des Landes.
Am 1. Februar beginnen die Zeremonien zur Bestattung des früheren Königs von Kambodscha, Norodom Sihanouk, der im Oktober 2012 in Peking gestorben ist. Die Trauerfeiern gehen mit der Kremation Sihanouks am 4. Februar zu Ende.
Hunderttausende von Kambodschanerinnen und Kambodschanern dürften zu den Trauerfeiern nach Phnom Penh reisen. Die Regierung schätzt, dass insgesamt zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Menschen in die Hauptstadt kommen könnten, deren Bevölkerung rund 2 Millionen beträgt. Doch die Behörden erklären, sie seien bereit für den riesigen Aufmarsch.
Naly Pilorge, Direktorin der Kambodschanischen Liga für die Förderung und Verteidigung der Menschenrechte (LICADHO), erklärt, die Regierung gehe geschickt mit den Trauerfeiern um, respektive wisse, diese zu ihrem eigenen Zweck zu nutzen – mit Blick auf die nächsten Parlamentswahlen, die alle fünf Jahre stattfinden.
«Wir werden eine Verhärtung des Regimes sehen», sagt sie voraus. «Im Vergleich mit andern Ländern der Region erscheint Kambodscha frei. Aber es kommt regelmässig zu Einschüchterungen, Repression und Zensur.»
Seit den 1990er-Jahren sind in Kambodscha 11 Journalisten getötet worden. Im Oktober 2012 wurde Mam Sonando, der Besitzer des unabhängigen Radios «Beehive» wegen «Sezession» und «Anstiftung zum illegalen Tragen von Waffen» zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
Kambodschas Neutralität
In dem Holzhaus, in dem er lebt, am Rande von Phnom Penh, entlang der Nationalstrasse Nr.1, erklärt der Ethnologe Ang Choulean, Sihanouk habe es verstanden, die Leute dazu zu bringen, ihn zu lieben, so autokratisch er auch gewesen sei.
Das sei auch ein offizielles Merkmal von Sangkum Reastr Niyum (was er wörtlich übersetzt mit «bevorzugte Gesellschaft der Bevölkerung») gewesen. Dies war die politische Bewegung, die Norodom Sihanouk zum Aufbau der Unabhängigkeit Kambodschas lanciert hatte – und gegen innen auch nutzen wollte gegen die populäre Demokratische Partei, die indochinesischen Kommunisten, die Bewegungen, die von Thailand und Südvietnam unterstützt wurden, die ihrerseits auf die USA ausgerichtet waren.
Um diesen schwierigen Weg mitten im Kalten Krieg abzusichern, was sich als ausweglos erweisen sollte – 1970 wird der Prinz durch einen pro-amerikanischen Putsch gestürzt – habe Norodom Sihanouk «sehr hart für das Land gearbeitet», erklärt der 63 Jahre alte Ethnologe nostalgisch.
«Auch als er offiziell nicht mehr König war, ist er es geblieben, hat seine altüberlieferten Aufgaben wahrgenommen, ob es nun darum ging, königlichen Prunk und Pracht zu inszenieren oder Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im ganzen Land zu lancieren. Und um das zu tun, wusste Sihanouk, wie er das Potential des Landes anzapfen konnte, indem er Tradition und Moderne miteinander verband. Das hatte er sein Leben lang im Auge behalten.»
(Übertragen aus dem Französischen: Rita Emch)
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