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Warum die Schweiz so milde bestraft

Ein Bett in einer Gefängniszelle
Nicht nur gelten Schweizer Gefängnisse als relativ komfortabel - man muss auch ziemlich viel auf dem Kerbholz haben, um überhaupt eine Haftstrafe in der Schweiz absitzen zu müssen. © KEYSTONE / WALTER BIERI

Im internationalen Vergleich fällt auf, dass die Schweiz Straftaten milde sanktioniert. Die Strafen sind vergleichsweise kurz, vor allem für Gewaltdelikte. Und wirklich ins Gefängnis müssen meist nur Wiederholungstäter oder Schwerkriminelle. Warum ist das so?

Ein Blick auf die Strafgesetzbücher europäischer Länder zeigt: Die deutschsprachigen Länder – darunter die Schweiz – sehen vergleichsweise milde Strafen vor. Wer in der Schweiz einen Menschen unter «grosser seelischer BelastungExterner Link» tötet, kann unter Umständen mit einem Jahr Gefängnis davonkommen.

In anderen Ländern sind meist deutlich höhere Strafrahmen vorgesehen, wie folgende Grafik zeigt:

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Zwar kann für Mord auch in der Schweiz eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden. Aber «lebenslänglich» heisst im Schweizer Strafrecht nicht, dass der Täter bis ans Ende seines Lebens im Gefängnis bleibt.

+ Was heisst «lebenslänglich» im Schweizer Strafrecht?

Nach 15 Jahren, in manchen Fällen auch bereits nach zehn Jahren, ist eine bedingte EntlassungExterner Link möglich. In der Schweiz ist es allgemein Standard, dass ein Täter nach Verbüssung von zwei Dritteln seiner Strafe bedingt entlassen wird.

Schweiz und Deutschland

Die Schweiz und Deutschland haben verblüffend ähnliche Strafgesetzbücher. Das lässt sich laut Hans-Georg KochExterner Link vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales StrafrechtExterner Link in Freiburg i. Br. (D) auf eine parallele Entwicklung der Strafrechtswissenschaft zurückführen, in der es zu engen Kooperationen zwischen deutschen und Deutschschweizer Wissenschaftler kam. Es gibt in der Deutschschweiz auch heute kaum eine rechtswissenschaftliche Fakultät, an der das Strafrecht nicht auch von deutschen Professoren gelehrt wird. Erstaunlicherweise hat diese «Germanisierung» des Schweizer Strafrechts in den französisch- und italienischsprachigen Landesteilen (noch) keinen Aufstand verursacht.

Milde Richter und Richterinnen

Der Experte für Strafrechtsvergleichung, Hans-Georg KochExterner Link, vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales StrafrechtExterner Link in Freiburg i. Br. (D), relativiert diese Vergleiche: Erstens seien Strafrahmenvergleiche wegen der unterschiedlichen Rechtssysteme generell sehr schwierig. Zweitens müsse man die tatsächlich verhängten Strafen vergleichen, nicht die im Gesetz vorgesehenen Strafrahmen, die nicht sehr aussagekräftig seien.

Leider gibt es keine aktuellen ländervergleichenden UrteilsstatistikenExterner Link. Klar ist aber: Schweizer Richter und Richterinnen fällen tendenziell milde Urteile. Sie orientieren sich in der Regel am unteren StrafrahmenExterner Link. «Die Schweiz hat im internationalen Vergleich ein sehr ungewöhnliches Sanktionenrecht, und zwar vor allem in der täglich gelebten Strafzumessungspraxis der Gerichte», sagt der bekannte Schweizer Kriminologe und Strafrechtler Martin KilliasExterner Link.

Gabriella MatefiExterner Link, Gerichtspräsidentin am Appellationsgericht Basel-Stadt, erklärt: «Der oberste Rahmen ist für die ganz schlimmen Fälle vorgesehen, die man sich als normaler Mensch vielleicht gar nicht vorstellen kann. Bei der Beurteilung realer Delikte in der Rechtsprechung werden Sie deshalb bei allen Tatbeständen im Durchschnitt Strafen in der unteren Hälfte oder im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens antreffen – sei es bei Betrug, Körperverletzungen oder sogar Tötungen.»

Nur Schwerkriminelle müssen ins Gefängnis

Ältere Statistiken zeigen zudem, dass es nur wenige Länder gibt, in denen so wenige Verurteilte tatsächlich ins Gefängnis müssen, wie in der Schweiz. Das hat auch damit zu tun, dass hierzulande bei Ersttätern Strafen unter zwei Jahren in der Regel nur bedingt ausgesprochen werden.

Ein Blick auf aktuelle Schweizer StatistikenExterner Link zeigt, dass seit 2007 Gewaltdelikte häufig nur mit einer Geldstrafe geahndet werden statt mit einer Gefängnisstrafe. Hier die Verurteilungen wegen Diebstahl und Körperverletzung 2017 im Vergleich zu 2006:

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Das ist die Folge einer Reform, mit der man bewusst kurze Freiheitsstrafen vermeiden wollte. «In Deutschland und der Schweiz will man möglichst keine kurzen Freiheitsstrafen vollstrecken, weil die Täter im Gefängnis eher noch krimineller werden», erklärt Koch. In angelsächsischen Ländern sässen relativ viele Täter wegen vergleichsweiser banaler Delikte ziemlich lange im Gefängnis – einfach deshalb, weil sie Wiederholungstäter seien.

«Strafe dient auch der Gerechtigkeit»

Laut Killias ist die Vorstellung, kurze Freiheitsstrafen seien schädlich, in der Schweiz richtiggehend zum Dogma geworden. Dass die Rückfallgefahr durch kurze Gefängnisstrafen erhöht werde, lasse sich wissenschaftlich aber nicht belegen. Und es gehe manchmal vergessen, dass Strafen auch eine gewisse Gerechtigkeit herstellen und die soziale Ordnung stabilisieren sollten.

Die Schweizer Reform wurde denn auch kritisiert und bereits wieder revidiertExterner Link. Laut Koch hat sich die Vermeidung kurzer Gefängnisstrafen jedoch grundsätzlich bewährt. «Für die Kriminalprävention spielen ohnehin andere Faktoren eine Rolle», so Koch.

Auch Matefi sagt: ʺDer abschreckende Effekt der Strafverfolgung hängt nur zu einem kleinen Teil vom durchschnittlichen Strafmass ab. Viel entscheidender für die Vermeidung von Straftaten ist das Risiko, überhaupt einer Strafuntersuchung zugeführt, also ʹerwischtʹ und bestraft zu werden.ʺ Und diesbezüglich stehe die Schweiz im internationalen Vergleich nicht schlecht da.

Milde Strafen als «kultureller Fortschritt»

Doch warum ist das Schweizer Gesetz so nachsichtig mit Straftätern, und warum mildern Richter und Richterinnen es noch weiter ab? Eine mögliche Erklärung ist eine Art Gruppendruck unter Richterinnen und Richtern. Es gibt nämlich eine «Vererbung regionaler Traditionen», wie eine Untersuchung in DeutschlandExterner Link gezeigt hat. Das heisst: Richter und Richterinnen lassen sich von den Entscheiden ihrer Kollegen und Kolleginnen beeinflussen, wodurch sich in einer Region eine eher milde oder eher strenge Gerichtspraxis entwickelt.

Urteilsbeispiel

Eine junge Frau fuhr mit dem Auto eine Fussgängerin um und beging Fahrerflucht. Das Opfer wurde so schwer verletzt, dass ein Bein amputiert werden musste. Die Täterin wurde zu einer Busse von 1200 Franken sowie einer bedingten GeldstrafeExterner Link verurteilt.

Eine weitere Erklärung liegt möglicherweise in Wissenschaft und Lehre, auf die sich Richter und Richterinnen bei ihrer Urteilsfindung stützen. Diese steht harten Strafen eher skeptisch gegenüberExterner Link. «Heute wirken an den Gerichten Personen, die über Jahrzehnte an den Universitäten von der These der Schädlichkeit der Freiheitsstrafen überzeugt worden sind», sagt Killias. «In den Kulturnationen Mitteleuropas gilt es als kultureller Fortschritt, moderat zu bestrafen», sagt auch Koch. «Die Freiheitsstrafen sind eher niedriger als in Grossbritannien oder den USA.»

Allgemein ist das Strafrecht in Europa im Vergleich zu anderen Teilen der Welt sehr human. Die Todesstrafe oder Körperstrafen wie Auspeitschen oder das Abhacken von Gliedmassen werden hier abgelehnt. Eine Haltung, die im Allgemeinen auch von der Bevölkerung mitgetragen wird.

Urteilsbeispiel

Eine Frau erschlug ihren Ehemann während eines gewaltsamen Streits mit dem Bügeleisen. Sie erhielt wegen Totschlags eine Strafe von 22 Monaten bedingtExterner Link.

2010 sammelte in der Schweiz zwar ein Komitee Unterschriften für eine Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe bei sexuellem Missbrauch mit Mord. Doch es zog die Initiative bald wieder zurück. Die Initianten hatten sich mit der Initiative bloss Gehör verschaffen und auf Missstände aufmerksam machen wollen – sie stammten alle aus dem Umfeld eines OpfersExterner Link. Konkret prangerten sie die Nichtumsetzung der Verwahrungsinitiative an, die extrem gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter lebenslang verwahren wollte.

Sicherheitsverwahrung bringt Schweiz in die Kritik

Die Schweiz hatte aufgrund der relativ kurzen Gefängnisstrafen und der Tatsache, dass Strafen bei mehreren Taten nicht addiert, sondern nur erhöht werdenExterner Link, nämlich das Problem, dass gefährliche Serienmörder oder Sexualstraftäter wieder auf freien Fuss kamen – und bei der ersten Gelegenheit erneut zuschlugen.

Urteilsbeispiel

Ein Mann missbrauchte fünf Kinder und wurde wegen Schändung und sexueller Handlungen mit Kindern zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Einige Jahre später lockte er ein achtjähriges Mädchen aus einem Garten weg in eine Baubaracke, wo er das Kind brutal missbrauchteExterner Link. Wegen dieser Tat wurde er zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Doch kaum auf freiem Fuss, vergriff er sich erneut an einem Jungen. Noch steht das Urteil in diesem Fall aus.

Deshalb setzen die Schweiz und auch Deutschland auf die so genannte «Sicherheitsverwahrung»: Dabei wird ein Wiederholungstäter auch nach Absitzen der Strafe im Gefängnis behalten, weil er für die Gesellschaft zu gefährlich ist. Erst wenn zu erwarten ist, dass der Täter sich in Freiheit bewährt, wird er aus dem Gefängnis entlassen.

Dieses Instrument wird international sehr kritisch gesehen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg hat die SchweizExterner Link und auch Deutschland wegen Verwahrungen verurteiltExterner Link. «Aber praktisch alle Länder haben sich etwas ausgedacht, um extrem gefährliche Täter von der Gesellschaft fernzuhalten», sagt Koch. Andere Länder sprechen beispielsweise lange Gefängnisstrafen aus oder addieren die Strafen bei mehreren Taten streng mathematisch, so dass der Täter mit Sicherheit zu Lebzeiten nicht mehr rauskommt. Vielleicht liesse sich die gehässige Debatte über Sicherheitsverwahrungen in der Schweiz also schlicht mit längeren Freiheitsstrafen beenden, wie Natalie Rickli von der Schweizerischen Volkspartei (SVP)Externer Link sowie Andrea Caroni von der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen)Externer Link vorschlagen. Die Schweiz würde sich damit anderen Ländern angleichen.

Bundesrat will härtere Strafen bei Gewalt- und Sexualstraftaten

Dass die Strafen für Geld- und Gewaltdelikte möglicherweise nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen und Richter und Richterinnen tendenziell zu milde Urteile fällen, scheint auch der Bundesrat erkannt zu haben. 

Er will jedenfalls die Strafrahmen «harmonisieren». Es habe noch nie einen umfassenden Quervergleich der Strafbestimmungen gegeben, ob sie der Schwere der Taten entsprächen und richtig aufeinander abgestimmt seien, heisst es zur Begründung auf der Website des Bundesamts für JustizExterner Link

Insbesondere sollen Gewalt- und Sexualdelikte zukünftig härter bestraftExterner Link werden. Denn: «Wenn die angedrohten Strafen dem Wert des jeweils geschützten Rechtsgutes in der Gesellschaft nicht entsprechen und schliesslich auch in keiner Relation mehr zu den tatsächlich verhängten Strafen stehen, verliert das Strafrecht insgesamt an Glaubwürdigkeit und somit auch an präventiver Wirkungskraft», heisst es in der BotschaftExterner Link.

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