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«Vergewaltigungen bleiben meist straffrei»

Jörg Kachelmann bei seiner Ankunft vor dem Mannheimer Gericht. Reuters

Über 7000 Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen verzeichnet die deutsche Kriminalstatistik pro Jahr. Nur wenige werden angezeigt, noch seltener kommt es zur Verurteilung. Dass das Problem in die Medien gelangt ist, dafür hat ein prominenter Schweizer gesorgt.

«Vor Gericht» heisst es in einem alten Sprichwort, «ist es wie auf hoher See. Man ist in Gottes Hand.» Die lässt sich allerdings mit dem nötigen Kleingeld beeinflussen.

Drei teure Anwälte und mehrere Gutachter hat die Verteidigung im Prozess gegen den Schweizer Meteorologen Jörg Kachelmann (52) im badischen Mannheim aufgefahren. Sie sollen die Richter davon überzeugen, dass die einzige Zeugin der Anklage lügt.

Seit September steht Kachelmann wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung vor Gericht. Der Schweizer soll, so die Anklage, seine damalige Freundin in der Nacht zum 9. Februar 2010 mit einem Messer bedroht und vergewaltigt haben.

Im Zweifel für den Angeklagten

Kachelmann bestreitet die Vorwürfe. Vor Gericht steht, wie in fast allen Vergewaltigungsprozessen Aussage gegen Aussage. Einzige Zeugin ist das – mutmassliche – Opfer. Sie sitzt mit einem Anwalt als Nebenklägerin im Gerichtssaal.

Verurteilen dürfen die Richter einen Angeklagten nur, wenn seine Schuld zweifelsfrei feststeht. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung – für Jörg Kachelmann ebenso wie für jeden anderen Beschuldigten.

Kein Wunder also, dass die Staatsanwaltschaften nur wenige Anzeigen wegen Vergewaltigung zur Anklage bringen und davon nur sehr wenige zu einer Verurteilung führen. Meist reichen die Beweise nicht für eine Anklage, geschweige denn für die Eröffnung eines Prozesses vor Gericht.

Anzeigen sind nicht die Regel

Nach einer Studie des deutschen Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004 hat fast jede siebte Frau in Deutschland «sexuelle Gewalt erfahren». Angezeigt wurden von diesen Straftaten nur «etwa fünf Prozent».

Im Rahmen eines Projekts der Europäischen Union haben Wissenschaftler der Londoner Metropolitan University die Kriminalstatistiken von elf europäischen Ländern ausgewertet.

In Deutschland wurden demnach von 2001 bis 2007 jährlich etwa 8000 Vergewaltigungen angezeigt. 1400 davon führten zu einer Anklage und davon 13 Prozent zu einer Verurteilung. Die amtliche deutsche Kriminalstatistik meldet für 2008 und 2009 jeweils etwas mehr als 7000 Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen.

Die Londoner Forscher fanden heraus, dass Falschanschuldigungen wegen Vergewaltigung sehr selten vorkommen: Etwa drei von 100 Anzeigen in Deutschland und zwischen ein und neun Prozent in den elf untersuchten Ländern entpuppten sich später als falsch. Verlässliche Zahlen gibt es hierzu nicht.

Verurteilungen sind selten

«Vergewaltigungen bleiben meist straffrei», folgert die Wiener Zeitung Der Standard aus den Untersuchungsergebnissen für Österreich. Dort werde «höchstens jede zehnte“ Vergewaltigung angezeigt und nur etwa jede 17. dieser Anzeigen führe zu einer Verurteilung.

Nach deutschem Recht gilt eine Tat nur als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung, wenn der Täter physische Gewalt oder ein anderes Nötigungsmittel einsetzt. Dass die Frau «nicht wollte», reicht dafür nicht aus.

Gerichtsfeste Beweise für die Gewaltanwendung liefert – wenn überhaupt – nur eine ärztliche Untersuchung des Opfers möglichst sofort nach der Tat. DNA-Spuren taugen vor Gericht nur dann zur Überführung eines Täters, wenn sie spätestens innert 72 bis 78 Stunden nach dem Verbrechen gesichert wurden.

Auch Verletzungen des Opfers wie Kratzer, blaue Flecken oder Spuren einer brutal zupackenden Hand lassen sich nur kurz nach der Tat zweifelsfrei feststellen. Die meisten Frauen stehen nach einer Vergewaltigung jedoch unter Schock. Nur wenige sind bereit oder in der Lage, gleich zum Arzt zu gehen, um ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen.

Einige grosse deutsche Städte wie München, Berlin, Münster und Hamburg haben deshalb eigene Gewaltopfer-Ambulanzen in grossen Krankenhäusern eingerichtet.

In Frankfurt/Main können sich die Frauen sogar anonym untersuchen lassen. Erst später entscheiden sie, ob sie Anzeige erstatten möchten und die Ergebnisse der Untersuchung dafür verwendet werden sollen.

Grosse Belastung für potentielle Opfer

Fehlen solche handfesten Beweise, müssen die Ermittler und im späteren Strafprozess die Richter vor allem die Glaubwürdigkeit des (möglichen) Opfers überprüfen.

So dauerte allein die Vernehmung der Ex-Freundin Kachelmanns vor dem Landgericht Mannheim rund fünf Stunden. Für die von einer Vergewaltigung oft schwer traumatisierten Frauen sind solche Vernehmungen häufig eine grosse psychische Belastung, der sich viele nicht aussetzen können oder wollen.

In einer deutschen Talkshow sagte ein ehemaliger Berliner Staatsanwalt, dass er seiner Tochter nach einer Vergewaltigung «nicht raten würde, die Tat bei der Polizei anzuzeigen».

Vorverurteilung der Beschuldigten

Auf den Ermittlerinnen und Ermittlern lastet eine hohe Verantwortung. 2005 zeigte der Fall des Fernsehmoderators Andreas Türck, wie schnell der Vorwurf, eine Frau vergewaltigt zu haben, einen Menschen ruinieren kann. Als das Gericht Türck freisprach, hatte ihn der Sender längst aus dem Pogramm genommen.

Schon die Ermittlungen führen dazu, dass der Beschuldigte von Freunden abgelehnt wird und beruflich Schwierigkeiten bekommt. Berichten dann, wie in letzter Zeit immer häufiger, die Medien ausführlich über den Fall, schützt selbst ein glatter Freispruch den vermeintlichen Verbrecher nicht vor der sozialen Ächtung.

Jörg Kachelmann hat am 3. November seinen Abgang von der Fernsehbühne erklärt, nachdem «Staatsanwaltschaft und Medien sein Privatleben gewaltsam» in die Öffentlichkeit gezerrt hätten.

Schon die ersten beiden Leserkommentare auf einer Internetseite der Boulevardzeitung Blick stecken das Feld ab: «Ich glaube ihr kein Wort», schreibt eine Vreni über die Frau, die der Wettermoderator Jörg Kachelmann vergewaltigt haben soll.
«Ne, diese Frau lügt nicht», weiss dagegen Blick-Leserin Chaline-Charlotte.

Wie die Schweizer Boulevardpresse verhandeln auch deutsche Illustrierte und Sender mit, allen voran das Massenblatt Bild. Wenn die Reporter nicht im Gerichtssaal sitzen dürfen, spekulieren und mutmassen sie. Gesten, Blicke und Bewegungen der Prozessbeteiligten werden zum Orakel aufgebläht.

Im Fall Kachelmann steht es medial derzeit etwa 50:50. Sogar die bekannte Frauenrechtlerin und Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer spielt mit. In der sonst von ihr wenig geschätzten Bild-Zeitung kommentiert sie den Prozess gegen Jörg Kachelmann. Sie will dem «mutmasslichen Opfer eine Stimme geben». Kachelmann habe drei Anwälte und die Frau seines Verteidigers an seiner Seite. «Gegenüber sitzt das mutmassliche Opfer alleine mit ihrem Anwalt».

Längst haben auch Anwälte und Staatsanwälte erkannt, dass sich Gerichtsverfahren mit geschickt gestreuten Informationen beeinflussen lassen – vor allem wenn Prominente als Angeklagte oder Nebenkläger vor dem Richter stehen.

Litigation-PR, also Gerichtsverfahrens-PR heisst der aus den USA importierte Kampf um die veröffentlichte Meinung. Während es in den Staaten vor allem darum geht, die Geschworenen auf die eine oder andere Seite zu ziehen, arbeiten in Deutschland Staatsanwälte vor allem am Image der Prozessbeteiligten.

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