Vertrauliche Geburt: die Alternative zum Babyfenster
Noch sind vertrauliche Geburten in der Schweiz wenig bekannt. Dabei könnten sie tragische Schicksale verhindern.
Die 19-jährige F. kommt mit Bauchschmerzen in die Arztpraxis. Die Untersuchung zeigt: Sie ist schwanger. Schockiert sagt sie, sie wolle kein Kind, auch dürfe niemand wissen, dass sie schwanger sei. Ihre Familie würde sie verstossen.
Die Schwangerschaft stamme von ihrem Ex-Partner, der wiederholt gewalttätig geworden sei. Frau F. will die Schwangerschaft abbrechen, doch dafür ist es in der 27. Woche schon zu spät. Was nun?
«In solchen Fällen gibt es in der Schweiz die Möglichkeit der vertraulichen Geburt», sagt Christine Sieber, Projektleiterin bei der Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz. Die vertrauliche Geburt ermöglicht es einer Frau, ihr Kind in einem geschützten Rahmen zur Welt bringen.
«Das heisst, eine Schwangere kann normal in einem Spital gebären und erhält eine angemessene Betreuung – ihre Personalien werden aber vertraulich behandelt, so dass das Umfeld der Frau von der Geburt nichts erfährt», so Sieber.
Danach hat die Frau sechs Wochen Zeit, um zu entscheiden, ob sie das Baby zur Adoption freigeben oder behalten möchte. In den meisten Fällen kommt es zu einer Adoption.
Pseudonym statt Anonymität
«Es sind äusserst schwierige Umstände, die eine schwangere Frau dazu bewegen, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen und ihr Kind versteckt zur Welt zu bringen», sagt Sieber: Gewalt zu Hause, Drohungen von der Familie, Scham und Angst. Oftmals leben die Frauen in prekären Verhältnissen, haben Gewalt von ihrem Partner oder ihrer Familie erlebt oder sind minderjährig.
Entweder erlauben religiöse oder ethische Gründe keine Abtreibung, oder aber die Schwangerschaft wird erst so spät entdeckt, dass ein Abbruch nicht mehr möglich ist. «Es ist wichtig, dass diese Frauen Unterstützung erhalten», sagt Sieber. Gemäss einer Erhebung der Stiftung besteht derzeit in 18 von 26 Kantonen das Angebot der vertraulichen Geburt, in weiteren Kantonen wird das Thema diskutiert.
Nicolette Seiterle, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Organisation Pflege- und Adoptivkinder Schweiz (PACH), hat in einer kürzlich publizierten Studie untersucht, wie Schweizer Spitäler vertrauliche Geburten handhaben.
«Dies ist recht unterschiedlich, da vertrauliche Geburten erst seit wenigen Jahren angeboten werden und kein einheitliches Verständnis besteht», sagt Seiterle. Eine nationale Regelung fehle, weshalb einige Spitäler einen eigenen Leitfaden haben.
So etwa das Kantonsspital St. Gallen. «Die Handhabung ist mit einem Manual geregelt, so dass wir jederzeit für eine vertrauliche Geburt bereit sind, auch wenn diese selten vorkommen», sagt Pressesprecher Philipp Lutz.
Man werde im Schnitt ein bis zwei Mal jährlich mit der Fragestellung einer vertraulichen Geburt konfrontiert, tatsächlich habe es in den letzten zehn Jahren beim Kantonsspital St. Gallen aber gerade mal drei bis fünf konkrete Fälle gegeben.
«Vertrauliche Geburten werden bei uns in enger Zusammenarbeit zwischen Frauenklinik und Sozial- und Austrittsberatung betreut. Die schwangere Frau erhält bei Bedarf ein Pseudonym. Zudem achten wir darauf, dass ihre Anwesenheit im Spital gegenüber Dritten nicht bekanntgegeben wird und keine Unterlagen nach Hause geschickt werden.»
Gegenüber dem Zivilstandesamt wird die Geburt und die Personalie der Mutter allerdings deklariert, das sieht die Meldepflicht so vor. Rechtlich gesehen sind anonyme Geburten in der Schweiz verboten.
Die Babyfenster oder -klappen bei Spitälern, die es erlauben, ein Neugeborenes anonym in einem Spital abzugeben, befinden sich in einer Grauzone, da dort die Mutter keine Personalien angibt – sie werden jedoch toleriert, weil das Kindeswohl überwiegt. Damit soll verhindert werden, dass Babys im Freien hinterlassen oder gar getötet werden.
«Es verhindert aber auch, dass die Mutter und das Kind während der Schwangerschaft und Geburt medizinisch und psychologisch betreut werden», sagt Seiterle. «Zudem hat das Kind, sofern es zur Adoption freigegeben wird, durch die vertrauliche Geburt die Möglichkeit, seine Herkunft zu erforschen, wenn es volljährig ist – wie es sein Recht ist», sagt Seiterle.
Dies sei äusserst wichtig, denn adoptierte Kinder beschäftigten sich sehr oft mit Identitätsfragen. «Eine vertrauliche Geburt ist deshalb die beste Alternative zur Babyklappe.»
Wenig genutzt, aber wichtig
In der Schweiz kommen vertrauliche Geburten nur vereinzelt vor. Die meisten vertraulichen Geburten verzeichnen gemäss der Erhebung von Sexuelle Gesundheit Schweiz die Spitäler in Winterthur, St. Gallen und im Kanton Bern, die Anzahl liegt aber nur bei zwei bis drei Fällen pro Jahr.
Zwar ist ihre Zahl in der Schweiz wie auch in anderen Ländern Europas rückläufig, «auch, weil die Stigmatisierung von unehelichen Kindern stark abgenommen hat», sagt Seiterle. Dennoch sei das Angebot wichtig. Das unterstreicht auch Christine Sieber von Sexuelle Gesundheit Schweiz: «Es betrifft die verletzlichsten Personen der Gesellschaft, die in eine Notsituation kommen.»
Sieber stellt auch fest: Noch immer ist die Möglichkeit der vertraulichen Geburt zu wenig bekannt. Dass es sie braucht, zeigt ein Beispiel im letzten Jahr: Im Januar 2020 setzte eine Mutter ihr Baby im Berner Oberland aus, das erst Stunden später unterkühlt gefunden wurde. Sie hatte es zuvor alleine in der freien Natur geboren.
Erst im August dieses Jahres wurde wieder ein Neugeborenes in einer Babyklappe abgegeben. Ob es anders gekommen wäre, wenn diese Frauen von der vertraulichen Geburt gewusst hätten, kann Sieber nicht sagen. Aber für sie ist klar: «Vertrauliche Geburten tragen zur Prävention der Kindesaussetzung bei.»
Andere Länder, andere Rechte
Anders als in der Schweiz ist in einigen Ländern die anonyme Geburt erlaubt, so etwa in Frankreich, Italien und Luxemburg. Weitere Länder wie Österreich, Tschechien, Ungarn oder die Slowakei haben gewisse Angebote zur anonymen Kindesabgabe rechtlich legitimiert.
In anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Belgien, Polen oder Russland handelt es sich ähnlich wie in der Schweiz eher um eine Duldung: Die anonymen Angebote, besonders die Babyklappen, werden ohne rechtliche Grundlage toleriert.
Dezidiert gegen entsprechende Angebote sprechen sich nur wenige europäische Länder aus, etwa Grossbritannien, Spanien oder Schweden. «Aus Kinderrechts-Perspektive besteht bei anonymen Geburten sowie der Abgabe eines Kindes in einer Babyklappe das Problem, dass das Kind später keine Möglichkeit zur Herkunftssuche hat», sagt Seiterle.
Doch auch in der Schweiz gäbe es Handlungsbedarf: «Oft kommt es zu einem Adaptionsautomatismus. Dabei sollten die betroffenen Mütter – und sofern möglich auch die Väter – informiert werden, dass es nach der vertraulichen Geburt verschiedene Möglichkeiten gibt, zum Beispiel eine offene oder halboffene Adoption, die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Kinderheim», so Seiterle.
Deshalb sei es grundlegend, das Thema aus beiden Blickwinkeln zu betrachten – jenem der Eltern sowie jenem des Kindes.
(Traduction de l’allemand: Marc-André Miserez)
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