Die «Stüa», das Herz des Bergeller Hauses
Das Bergell im Süden der Alpen ist eines der berühmtesten Täler der Schweiz. Viele Wohnhäuser, Ställe und Heuschuppen haben die Merkmale der Architektur aus verschiedenen Epochen der Vergangenheit behalten. Besuch in einem herrschaftlichen Haus aus dem 16. Jahrhundert.
VicosopranoExterner Link, ein Dorf genau in der Mitte des Bergells, liegt auf dem flachen Talgrund. Das Haus, das wir besuchen, befindet sich mitten im Dorf, nur wenige Meter vom kleinen Dorfplatz entfernt, an der schmalen Hauptstrasse, wo mehrere wertvolle historische Gebäude stehen.
Es handelt sich um ein herrschaftliches Haus aus dem 16. Jahrhundert. Es war eine Zeit des Wohlstands im Kanton Graubünden und besonders im Bergell. Dies dank einer grossen politischen Stabilität, garantiert durch den damaligen Freistaat der drei Bünde und dank einer florierenden Wirtschaft im Zusammenhang mit den Alpenpässen.
Das Haus heisst «Casa del Nudair végl», auf Deutsch Haus des alten Notars. Es gehörte der Patrizierfamilie Prevosti, wie das Familienwappen belegt, das mit der Sgraffito-Technik auf der Hauptfassade angebracht wurde.
Heute gehört das Haus der Familie Gianotti. Es wurde in zwei Wohnungen aufgeteilt. In der Wohnung im zweiten Stock lebt Jon Bischoff mit seiner Partnerin Hanna und zwei Kindern. Bischoffs Grossvater mütterlicherseits, ein Sekundarlehrer, hatte das Haus nach dem Zweiten Weltkrieg gekauft. Noch heute verfügt es über einige traditionelle Merkmale wie viel Holz und das Fehlen von Heizkörpern.
Neben einem modernen Teil ist die Küche mit einem traditionellen Holzofen ausgestattet, auf dem Bischoff «Pizzoccheri» oder geschmortes Fleisch mit Polenta für seine vielen Gäste zubereitet.
Ein weiterer charakteristischer Aspekt der Wohnung ist die «Stüa», auf Deutsch die Stube. Diese ist vollständig mit Arvenholz ausgekleidet, einem typischen Bündner Baumaterial. Dieser Raum wird durch einen grossen Ofen beheizt. In einigen Häusern ist dieser reich verziert.
Diese Art von Arvenstube findet sich nicht nur im BergellExterner Link, sondern in vielen anderen Teilen der Alpen wieder. Traditionellerweise ist sie der Dreh- und Angelpunkt des Hauses. Im Gianotti-Haus ist die «Stüa» während der kalten Jahreszeit das Reich der Kinder, die lieber hier als in ihrem viel kälteren Zimmer spielen. In der Stube wird auch gegessen, wenn Gäste zu Besuch kommen.
Jon und Hanna, die früher in Zürich lebten, verbrachten jeweils den ganzen Sommer im Bergell. Im Mai 2018 beschlossen die beiden, ihre erstgeborene Tochter in den Kindergarten von Vicosoprano einzuschreiben und hier ihre Zelte aufzuschlagen.
«Es war ein Entscheid, der uns nicht leichtgefallen ist. Aber wir wollten unsere Kinder in einem in vielerlei Hinsicht kinderfreundlichen Kontext grossziehen. Hier kenne ich alle, und ich zögere keine Sekunde, auf der Strasse oder in den Wirtschaften im Tal einige Worte mit jemand zu wechseln. Das hat mir in Zürich am meisten gefehlt», sagt Bischoff.
Bischoff ist Experte für die rätische Kultur: Bei seiner Arbeit als Illustrator, seinem Hauptberuf, widmet er sich vor allem der Geschichte des Bergells und Graubündens wie auch der romanischen Kultur. Rätoromanisch ist denn auch die Sprache, in der er mit seinen Kindern spricht.
Neben seiner Arbeit als Illustrator engagiert sich Bischoff in den Sommermonaten im «Crott da Bond». Es ist das einzige noch aktive «Crotto» im Tal. Das winzige Gebäude befindet sich etwas ausserhalb des Dorfs Bondo. Es wurde beim verheerenden Erdrutsch vom 23. August 2017 fast weggefegt und gilt heute als Symbol für die Wiedergeburt des Dorfs.
Hanna hingegen arbeitet weiterhin in Zürich. Sie leitet eine Flüchtlingsorganisation. Für sie war der Umzug eine schmerzliche Erfahrung. Das Zentrum ihrer Welt hat sich aber nicht bewegt: In Zürich bleiben neben ihrer Arbeit auch die Freundschaften und Interessen bestehen.
Ihre Liebe für das Bergell stehe «ausser Frage», sagt sie. Aber im Moment «habe ich noch immer nicht das Gefühl, dass ich wirklich hierher gezogen bin. In Vicosoprano bin ich völlig in die familiäre Dimension eingetaucht, während ich in Zürich andere Aspekte meiner Existenz lebe. Es ist nicht immer einfach, mit dieser Situation umzugehen».
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