Zeichnen lernen, um vollwertige Bürger zu werden
Die Digitalisierung setzt die Handfertigkeiten immer mehr unter Druck. Doch die Gefahr, dass diese aus dem Lehrplan verschwinden, besteht nicht. Zu wichtig ist deren Rolle für die Entwicklung der Schüler, als dass diese einfach durch eine App ersetzt werden könnten.
Malen wie ein Altmeister, komplexe Grafiken erstellen, ein architektonisches Werk entwerfen: Mit den neuen Technologien sind die Möglichkeiten in der Gestaltung schier unbegrenzt.
Ein paar Gesten genügen. Man braucht nicht einmal mehr zu klicken, wenn man mit dem Finger über das Tablet oder Smartphone gleitet. Jeden Tag werden neue Apps zur freien Kunstentfaltung angeboten, für jeden Geschmack und jede Altersklasse.
Macht es angesichts dieser Entwicklung noch Sinn, eigenhändig und mit traditionellen Materialien zu zeichnen? Der Didaktiker Luigi Moro, Experte für visuelle Bildung an der Fachhochschule der italienischen Schweiz (SUPSI), hat keine Zweifel: Auch im Zeitalter der Digitalisierung bleibt die Schulung der Zeichenkunst sehr wichtig.
Die visuelle Bildung trage zur Entwicklung der geistigen und intuitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler bei und schärfe ihren Sinn für Ästhetik und Geschmack, ist Moro überzeugt.
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Wenn Kinder zeichnen
Zudem glaubt er, «dass die Entdeckung, dass man mit der Hand ein Zeichen hinterlassen kann, aus dem eine Form entsteht, die ein Objekt werden kann, eine derart starke, potente Magie ausübt, dass sie am Ende immer siegen wird. Wenn ein Schüler es schafft, mit seinen eigenen Händen etwas Schönes zu erschaffen, macht ihn das glücklich. Deshalb müssen wir die Schüler ausbilden und ihnen die Instrumente dazu in die Hand geben. Wir müssen die Bedingungen schaffen, damit diese Ausbildung weitergegeben werden kann».
In dieser Zeit der abstrakten und technischen Aktivitäten seien die visuelle und die bildende Kunst noch wichtiger geworden, meint sein Kollege Dante Laurenti. Und er unterstreicht die negativen Auswirkungen der neuen Technologien auf die Handfertigkeiten der Jugend.
«Wenn man vor zehn Jahren noch etwa einen Monat brauchte, um Schülerinnen und Schülern der sechsten Klasse eine saubere Arbeitsweise beim Zeichnen beizubringen, dauert dies heute ein halbes Jahr.» Die neue Generation «verliert die manuellen Feinheiten, weil sie nicht mehr gewohnt ist, ihre Hände zu gebrauchen».
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Kinderzeichnungen als Geschichtsbuch
Training der Handfertigkeit
Es sei daher zentral, sagt Moro, «dass es dafür Platz gibt in der Schule – wie ein Übungsfeld, wo man seine Interessen und persönlichen Stärken ausprobieren kann angesichts der anstehenden Berufswahl und kulturellen Vertiefung».
«Ein täglicher Kampf» sei es, klarzustellen, wie wichtig die Mal- und bildende Kunst für die Ausbildung und die kognitive Entwicklung der Schüler sei, sagt der Experte. Um das Interesse der Schülerschaft zu wecken, sei es wichtig, dass die pädagogischen Vorschläge gut und klar ausgearbeitet und von hoher Qualität seien.
«Man muss eine komplexe, jedoch den Fähigkeiten des Schülers angepasste Aktivität vorschlagen, die so strukturiert ist, dass dieser eine sinnvolle Erfahrung machen kann, mit einem Aufwand, der für ihn realistisch ist.»
Cristiana Canonica Manz, Didaktikerin und Expertin für bildende Kunst an der SUPSI, betont: «In der Beziehung zwischen dem sich vorgestellten und dem vollendeten Objekt findet man Befriedigung. Dazu braucht es eine didaktische Strukturierung durch den Lehrer.»
Ein didaktischer Anspruch, der heute für das Zeichnen in der Primarschule, wo die Lehrer nicht spezialisiert sind, in vielen Fällen fehle, beklagt sich Laurenti. «Gerade in der Primarschule, wo die Schüler strukturiertere und realistischere Zeichnungen machen wollen, gibt es Situationen, wo das Fach Zeichnen in den letzten zwei Stunden des Freitagnachmittags eingeplant ist, quasi als Moment der Entspannung.»
Der Experte befürchtet, solche Defizite könnten mit der Harmonisierung des Schweizer Schulsystems noch verstärkt werden. Er ist der Meinung, nun hätte man die Möglichkeit, diese Disziplin auf vier Wochenstunden auszuweiten, indem man abstraktere und intellektuellere Fächer etwas reduziere.
«Dies würde auch zahlreiche Probleme der Schülerinnen und Schüler betreffend Zufriedenheit und Verhalten lösen. Und wenn die Schüler zufrieden sind, verbessert sich auch ihre Leistung in anderen Fächern», ist Laurenti überzeugt.
Die Schulbildung in der Schweiz liegt in der Kompetenz der Kantone. 2006 hat das Stimmvolk jedoch einen nationalen Bildungsartikel in der Verfassung gutgeheissen.
Für dessen Umsetzung formierte sich ein Konkordat zur Harmonisierung der obligatorischen Schule (Harmos). Der Bildungsartikel trat 2009 in Kraft. Da das Konkordat von 15 Kantonen ratifiziert worden ist, müssen sich auch die restlichen Kantone in die Harmonisierung einfügen.
2015 soll Bilanz gezogen werden. Dann soll bewertet werden, ob die nationalen Bildungsziele erreicht worden sind und ob die Harmonisierung genügt. Sollte dies nicht der Fall sein, kann die Eidgenossenschaft die nötigen Vorschriften erlassen, um die verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu konkretisieren.
Mit Ausgewogenheit und Intelligenz
Das heisse aber nicht, dass die neuen Informatikmittel ignoriert werden sollten, sagt Luigi Moro: «Das wäre total falsch. Vielmehr geht es darum, diese sinnvoll einzusetzen, mit Ausgewogenheit, auf aktive und intelligente Art und als Anreiz.»
Canonica Manz ergänzt: «Die Herausforderung für die Lehrpersonen ist es, diese Mittel zu kennen und den Schülern verständlich zu machen, dass einerseits die Erfahrungen mit Informatikmitteln im Klassenzimmer anders sind als jene, die sie ausserhalb der Schule machen, und dass andererseits auch für ein Projekt mit modernen Mitteln die Handfertigkeit unerlässlich bleibt.»
Im Lauf der Schulreformen der letzten Jahre und während der Vorbereitungen auf das harmonisierte System der obligatorischen Grundschule in der Schweiz wurde der Wert der handwerklichen Bildung explizit anerkannt.
Im Lehrplan der Mittelstufe des Kantons Tessin steht wörtlich geschrieben: «Die Handfertigkeit ist ein wichtiges und unersetzbares Moment für ein harmonisches Wachstum der Schülerinnen und Schüler.»
Doch nicht nur in der Schule, auch in der Gesellschaft, die sich immer weiter in die andere Richtung entwickelt, werden die Möglichkeiten immer seltener, sich handwerklich zu betätigen. Daher sollte die Schule den Schülern den Raum und die Instrumente dazu bieten, sagt Moro.
«Sonst wachsen sie wie nicht vollwertige Bürgerinnen und Bürger auf, die nie die Möglichkeit hatten, diese Art von Intelligenz auszuleben.» Ausserdem werde damit die Basis gelegt für all jene jungen Menschen, die in Zukunft eine akademische oder berufliche Ausbildung im Bereich Kunst und bildende Kunst anstrebten.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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