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Zürichtal – Aufstieg und Fall

1860 von Schweizer Siedlern aufgebaut, heute ein russisch-orthodoxes Gotteshaus. Irma Jakovlevna vor der Kirche von Zolotoe Pole, dem ehemaligen Zürichtal. Norbert Rütsche

Nicht nur wirtschaftlich ging es mit der Schweizer-Kolonie auf der Krim aufwärts, auch das kirchliche Leben entwickelte sich zusehends.

Nachdem 1820 ein einfaches Gotteshaus gebaut worden war, traf zwei Jahre später der erste Pfarrer, Heinrich Dietrich aus dem zürcherischen Schwerzenbach, in Zürichtal ein.

1860 wurde in der Mitte der Siedlung – auf einer kleinen Anhöhe zwischen Ober- und Unterdorf – eine stattliche Kirche gebaut. Zürichtal wurde zum Sitz der Propstei, das Kirchspiel (die Kirchgemeinde) umfasste schliesslich 36 Bauernkolonien und dazu noch die Städte Staryj Krym, Feodosija und Kerč›.

Ebenfalls 1860 wurde sieben Kilometer nordöstlich von Zürichtal in der Steppe das Dorf Neu-Zürichtal (heute Krasnogvardejskoe) gegründet, eine von vielen Tochterkolonien, die als Folge des wirtschaftlichen Wohlergehens und des Bevölkerungswachstums entstanden waren.

Am Ende des Ersten Weltkrieges zählte man auf der Krim 314 deutschsprachige Siedlungen.

Schwäbisch-schweizerdeutsche Mischmundart

1918 lebten in Zürichtal 590 Menschen, 1926 waren es 738. Viele von ihnen waren allerdings nicht mehr direkte Nachkommen von Schweizern, hatten sich doch im Laufe der Jahre auch zahlreiche deutsche Auswanderer (viele Schwaben) in Zürichtal niedergelassen.

Aus der Schweiz allerdings dürfte den Dorfgründern kaum mehr jemand gefolgt sein. Zudem war Zürichtal vorwiegend von Kolonistendörfern mit Siedlern aus Baden, Württemberg und der Pfalz umgeben – und die Liebe machte an den Dorfgrenzen nicht halt.

Dieser Umstand wirkte sich auch auf die Sprache aus. Es entstand in Zürichtal eine schwäbisch-schweizerdeutsche Mischmundart, in der die süddeutschen Elemente je länger je mehr dominierten.

Zudem lernten die Kinder der zweiten und dritten Generation zusätzlich bald auch Russisch und Krimtatarisch. Als Muttersprache behielten sie aber ihren deutschen Dialekt, die Unterrichtssprache in der Schule war Hochdeutsch.

Gemeinschaftsgefühl

Gleichzeitig mit der Angleichung des Dialektes ging das Bewusstsein der Herkunft immer mehr verloren. Es wurde zusehends unwichtig, ob die Vorfahren aus der Schweiz oder einem deutschen Fürstentum nach Zürichtal gekommen waren – alle fühlten sich zusammen mit den Kolonisten der umliegenden Dörfer als Deutsche.

Diese Tatsache wurde dadurch verstärkt, dass alle Zürichtaler Bauern russische Staatsbürger waren. Einzig Familiennamen wie Lüssi, Dubs, Aberli, Vollenweider, Huber oder Näff verwiesen noch auf die Schweizer Vorfahren.

Konfessionell setzte ebenfalls eine Vereinheitlichung ein. Die Katholiken zogen weg, um eigene Dörfer in der Steppe zu gründen, die Reformierten – zu denen die ursprünglichen Schweizer Kolonisten mehrheitlich gehört hatten – vereinigten sich mit den Lutheranern.

Das Ende: Enteignung und Deportation

Der Erste Weltkrieg und die russische Revolution hinterliessen auch in Zürichtal ihre Spuren. Die weitgehend «zu Deutschen gewordenen» Schweizer Kolonisten wurden von den 1915 erlassenen Liquidationsgesetzen (Enteignung der deutschen Landbesitzer) genauso wenig verschont wie die deutschen Siedler.

Die Interimsregierung machte nach der Revolution diese Gesetze zwar rückgängig. Dafür trieben die Bolschewiken ab 1929 die Kollektivierung der Landwirtschaft verstärkt voran, bei der verschiedene Zürichtaler nur widerwillig mitmachten, andere sich ganz weigerten.

So wurden auch aus Zürichtal einige Bauern, die nicht bereit waren, den Grossteil ihres Besitzes abzugeben, «abgeholt» und in den Ural deportiert. Anfangs der 1930er Jahre wurde die Kirche geschlossen und in ein Kulturhaus verwandelt, der Turm wurde gesprengt.

Ein Tag zum Packen

Der Zweite Weltkrieg bedeutete schliesslich das endgültige Aus für Zürichtal. Stalins Weisung, alle Deutschen als «Staatsfeinde» zu deportieren, traf 1941 auch das von den Schweizern gegründete Dorf.

Die Zürichtaler hatten einen Tag Zeit, um die nötigsten Sachen zusammenzupacken, ehe sie am 18. August auf die lange, beschwerliche und für viele todbringende Reise nach Kasachstan geschickt wurden.

In den Deportationsgebieten wurden sie wie alle Deutschen als Arbeitskräfte auf Kolchosen und Sowchosen verteilt oder mussten in den Arbeitslagern der sogenannten Trudarmee schuften, wo sich ihre Spuren oft verloren.

Militär-Stützpunkt

In Zürichtal zogen inzwischen Russen und Krimtataren in die leerstehenden Häuser ein. Hitlers Truppen fanden nach ihrem Einmarsch auf der Krim gerade noch 960 Personen deutscher Sprache.

Das «Schweizer Dorf» nutzte die Wehrmacht unter anderem zur Stationierung von Militär-Flugzeugen.

Nach Kriegsende wurde Zürichtal genauso wie alle anderen deutschen Siedlungen umbenannt und heisst seither Zolotoe Pole.

Heute zählt die Siedlung rund 3500 Einwohner. Hauptarbeitgeber ist die Sowchose, zur der viele Wein- und Obstgärten und eine Weinkelterei gehören.

Lohn in Waren

Wie überall auf der Krim hat die Wirtschaftsmisere auch vor Zolotoe Pole nicht Halt gemacht: Die Sowchos-Angestellten haben schon seit mehreren Jahren kein Bargeld mehr ausbezahlt bekommen.

Sie erhalten den Lohn in Form von Produkten – meist Wein und Schnaps – und müssen diese selbst verkaufen.

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