Zufluchtsort für Obdachlose
Eine Scheidung, ein Schicksalsschlag oder ein abgewiesenes Asylgesuch und das Leben gerät aus den Fugen, man landet auf der Strasse. Casa Astra nimmt jährlich rund 70 Personen auf, die eine Unterkunft suchen. Sie erhalten ein Bett und soziale Begleitung.
Richard* war 62, als ihn die Polizei in die Casa Astra brachte. Er hatte wochenland im Bahnof von Chiasso gehaust. Über ihn weiss man wenig bis nichts, nur, dass er einen österreichischen Pass besitzt, in der Vergangenheit als Maler in der Deutschschweiz gearbeitet hat und in den Bergen einen Unfall hatte. Seither ist er psychisch angeschlagen.
Wie ein Puzzle haben die Betreuer der Casa Astra seine Geschichte Stück für Stück rekonstruiert. «Ohne unsere Hilfe hätte Richard als Obdachloser geendet, mit dem Risiko, dass seine Krankheit sich verschlimmert hätte und er von der Gesellschaft ausgeschlossen worden wäre», erzählt Donato Blasi, Leiter der Institution.
Gastlichkeit für Schweizer und Ausländer
Seit über zwei Jahren lebt Richard nun in einer kleinen Gemeinde im Südtession in dieser Notunterkunft, die von der Sans-Papiers-Bewegung betrieben wird,
Die Einrichtung wurde 2004 eröffnet und wird zu 30% vom Kanton über die Fonds von Swisslos finanziert. Die Casa Astra bietet Schweizer und ausländischen Staatsangehörigen, die im Moment ohne festen Wohnsitz sind, eine Bleibe.
«Im Allgemeinen sollten die Gäste höchstens drei Monate bleiben», betont Donato Blasi. «Es kann aber vorkommen, dass sie mehr Zeit brauchen, um ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen.»
Für Richard war es so. Dank der Hilfe von Sozialarbeitern hat sich seine Krankheit stabilisiert. Er kam in den Genuss einer Pension – für die er in Zürich 25 Jahre lang Beiträge geleistet hatte – sowie einer Invalidenrente. Zur Zeit sucht er eine Wohnung, um wieder ein unabhängiges Leben führen zu können.
Junge Männer in Schwierigkeiten
Gemäss einer Studie, die vom kantonalen Sozial- und Gesundheits-Departement in Auftrag gegeben wurde, waren bei den verschiedenen Institutionen 2004 mehr als 800 Obdachlose gemeldet.
Ein Phänomen, das schwierig zu beziffern ist, laut Donato Blasi aber laufend zunimmt. «2010 mussten wir rund 100 Personen abweisen.» Die Casa Astra verfügt über drei Zimmer mit je vier Betten. Einen freien Platz für mehr als eine Woche zu finden, ist rar.
Bei den Gästen in der Casa Astra handelt es sich vorwiegend um junge Männer aus der Region, die in Schwierigkeiten stecken. «Es sind Junge, die mit den Eltern gebrochen haben, Drogenabhängige, Arbeitslose oder Schweizer, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind.»
Ausländer auf der Durchreise habe es kaum, grösstenteils seien es Europäer oder solche mit einer Aufenthaltsbewilligung für ein EU-Land. «Schliesslich kommen auch Ausländer, auf deren Asylgesuch nicht eingetreten wurde, oder Sans-Papiers.»
Die Casa Astra bietet ihnen eine vorübergehende Bleibe, soziale Betreuung sowie Zugang zu den Dienstleistungen vor Ort, die ihren Bedürfnissen besser entsprechen.
Von Null beginnen
Vor einer Tasse Tee sitzend erzählt Christina* von ihrer Ankunft in der Casa Astra. «Nachdem ich viele Jahre in einer Bank gearbeitet hatte, wurde ich von einem Tag auf den anderen auf die Strasse gesetzt, mit der Begründung, ich hätte von allen Mitarbeitenden die grösste Chance, wieder eine Arbeit zu finden. Stattdessen bin ich jetzt da…»
Christina ist in der Region geboren und aufgewachsen. Bereits seit einem Jahr wohnt sie in der Casa Astra. «Die Sozialhilfe hat mich hergeschickt. Am Anfang war ich ehrlich gesagt ziemlich verärgert darüber. Wütend auf ein System, das meiner Meinung nach den Ausländern hilft und uns Schweizer vernachlässigt.»
Mit der Zeit hat Christina ihre Meinung geändert: «In der Casa Astra macht man keine Unterschiede. Die Leute hier brauchen einen Platz zum Schlafen, Waschen, wollen angehört und vielleicht auch verstanden werden. Wie sind wie eine grosse Familie, und in einem gewissen Sinn bin ich eine Art Mutter für diese Jungen, die oft niemanden mehr haben auf der Welt.»
Appell an die Behörden
In der Casa Astra klingelt das Telefon. Eine Frau will dringend mit Donato Blasi sprechen. Letzte Nacht, als sie von der Arbeit nach Hause fuhr, sah sie am Strassenrand eine Familie aus Ecuador, die im Auto übernachtete. Sie ist beunruhigt und will wissen, was man tun kann.
«Jeden Winter wiederholt sich die gleiche Tragödie», sagt Donato Blasi. Die Casa Astra ist das einzige Zentrum dieser Art im Tessin, das rund um die Uhr geöffnet ist und auch Sans-Papiers offen steht. «Familien nehmen wir aus Platz- und Sicherheitsgründen nur selten auf.»
Die Sans-Papiers-Bewegung hat wiederholt mehr kantonale Unterstützung für die Casa Astra verlangt sowie eine legale Basis für die Finanzierung weiterer Notunterkünfte, wie dies in vielen anderen Schweizer Kantonen gehandhabt wird.
Eine entsprechende Motion wurde im April 2010 eingereicht. Sie berief sich auf eine Botschaft der Regierung, in der die «Notwendigkeit für eine Lösung des wachsenden Problems der Obdachlosen» anerkannt wurde.
In den vergangenen zwei Wintern hatte der Kanton Tessin ein provisorisches Notaufnahmezentrum eröffnet, betrieben von Fra Martino Dotta. Für dieses Jahr gibt es allerdings noch keine Garantie. Währenddessen werden die Nächte immer kälter…
*Name geändert
Die Casa Astra, eröffnet am 1. Mai 2004, ist eine Notunterkunft für Personen (Schweizer oder Ausländer), die kein Dach über dem Kopf und/oder soziale Probleme haben.
Die Einrichtung stellt 12 Betten für Erwachsene zur Verfügung und ist rund um die Uhr geöffnet.
2010 fanden 70 Leute in der Casa Astra Unterschlupf, das sind 20 mehr als im Jahr zuvor.
13 von ihnen waren Schweizer Staatsangehörige oder Ausländer mit C-Ausweis aus dem Kanton Tessin.
Bei 19 weiteren handelte es sich um Personen, auf deren Asylgesuch nicht eingegangen wurde, sowie um 19 mit einem Touristenvisum.
15 Leute mussten durchschnittlich im Monat vor allem aus Platzgründen abgewiesen werden.
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer belief sich 2010 auf 53 Tage, 2009 waren es 60 Tage.
Casa Astra ist eine Initiative der Sans-Papiers-Bewegung und wird zu 30% vom Kanton Tessin finanziert via Swisslos.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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