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Viele Schweizer wissen wenig über das Internationale Genf

See und Luzern
Besucher geniessen die Sonne am Ufer des Vierwaldstättersees in Luzern. swissinfo.ch

Die Schweiz investiert Millionen in ihre Strategie als Gastgeberin für das so genannte "Internationale Genf", doch viele Menschen im mehrheitlich deutschsprachigen Raum der Schweiz seien mit der dort geleisteten Arbeit nicht vertraut, behauptet der Leiter eines Think Tanks. 

Ein sonniger Mainachmittag in Luzern: Chinesische Touristen und Einheimische überqueren die historische Kapellbrücke oder befahren auf Schiffen den Vierwaldstättersee. Die Arbeit der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen in Genf scheinen weit entfernt.

Letzten Donnerstagabend jedoch stand Genf für einmal im Zentrum des Interesses der deutschsprachigen Stadt: An der Universität Luzern fand der Abschluss der Veranstaltungsreihe «Internationales Genf: die Welt in der SchweizExterner Link» statt.

Die vom aussenpolitischen Think Tank ForausExterner Link organisierte Tour umfasste Konferenzen in neun Städten – hauptsächlich der Deutschschweiz. Ziel des Projekts: Das Bewusstsein für die Rolle und Bedeutung des Internationalen Genfs in der Schweiz schärfen. 

Grosse Wissenslücken

Foraus-Geschäftsführer Lukas Hupfer sagt, die Tour-Teilnehmer hätten grosses Interesse gezeigt, aber er habe grosse Wissenslücken gespürt.

«Ich war überrascht – sogar besorgt – zu sehen, wie wenig Menschen über das Internationale Genf und die UNO wissen», sagt er. «Die Menschen sind besorgt darüber, was in der Welt vor sich geht, können aber nicht wirklich verstehen, was multilaterale Diplomatie ist.»

«Wir sind der Meinung, dass das Internationale Genf für die internationale Governance wirklich wichtig ist, da es verschiedene Akteure zusammenbringt, darunter Menschen aus Wissenschaft, Regierung, Diplomaten und NGOs», so Hupfer. «Das Internationale Genf muss gestärkt werden, da der Multilateralismus vor grossen Herausforderungen steht.» 

Die Luzerner Podiumsteilnehmerin Christine Beerli, ehemalige Vizepräsidentin des IKRK und derzeitige Präsidentin der Gruppe Initiativen der Veränderung SchweizExterner Link äussert sich vorsichtiger: «Ich denke, die Deutschschweizer sind sich sehr wohl bewusst, dass Multilateralismus und Humanität ein enormer Vorteil sind», sagte sie.

«Es ist die Stadt Genf selbst, die ziemlich weit weg scheint – drei Stunden mit dem Zug und eine sehr internationale Stadt. Die Arbeit, die in Genf geleistet wird, zum Beispiel vom Roten Kreuz, ist sehr nah an den Deutschschweizern. Aber die grosse Zahl der Diplomaten sowie die UNO entsprechen nicht wirklich ihrer Denkweise.»

Global Governance 

Genf ist derzeit Standort des europäischen Hauptsitzes der Vereinten Nationen, Sitz von 37 internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO), von 380 NGOs und 170 diplomatischen Vertretungen. Insgesamt gibt es über 30’000 internationale Beamte und Diplomaten. Und im Jahr 2017 zogen 3364 internationale Konferenzen und Anlässe über 220’000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen an. 

Die UNO betont, dass sie ein Zentrum der Global Governance ist, in dem die getroffenen Entscheidungen direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben.

«Wenn Sie sich die Zähne putzen, wird die Menge an Chemikalien in Ihrer Zahnpasta durch die in Genf verabschiedeten Normen bestimmt», sagte UNO-Generaldirektor Michael Moller kürzlich der Zeitung Tribune de Genève.

Laut Schweizer Regierung bietet das Internationale Genf dem kleinen Alpenstaat zahlreiche Vorteile. Die neue Botschaft zur Stärkung der Rolle der Schweiz als Gaststaat für den Zeitraum 2020–2023Externer Link, die vom Parlament verabschiedet werden muss, beschreibt, wie das Internationale Genf die Schweiz bei der Erreichung ihrer aussenpolitischen Ziele unterstützt, Schweizer Werte fördert, Zugang zu Beamten und Entscheidungsträgern und Sichtbarkeit bietet und interessante finanzielle Erträge liefert – Organisationen und NGOs geben jährlich 3 Milliarden Franken in der Schweiz aus oder investieren sie. 

Warum das mangelnde Interesse?

Laut Hupfer haben die Parlamentarier in Bern Verständnis für Investitionen von 112 Millionen Franken in das Internationale Genf. Er glaubt, dass sie die neue Botschaft annehmen werden.

Die Öffentlichkeit hingegen sei zwar durchaus vertraut mit der Rolle Genfs als humanitäre Plattform für das Rote Kreuz und andere Organisationen, so der Foraus-Geschäftsführer. Doch sie erkenne nicht den vollen Umfang der geleisteten Arbeit, die auch andere Themen wie die UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung, Internet-Governance, Arbeitsrechte und Migration umfasst. «Die Leute sehen den wirtschaftlichen Nutzen nicht wirklich», meint Hupfer.

Wer ist schuld an dem Mangel an Wissen oder Interesse? Beobachter weisen darauf hin, dass Deutschschweizer Medien das Internationale Genf nicht wirklich abdecken, und die politische Bildung in den Schulen ist von Kanton zu Kanton und von Lehrer zu Lehrer sehr unterschiedlich.  

Einige Teilnehmer der Konferenz von letztem Donnerstag zeigen mit dem Finger auf die Schweizer Regierung und werfen ihr vor, widersprüchliche Signale zu den jüngsten multilateralen Themen auszusenden: Dies insbesondere mit dem Rückzieher beim UN0-MigrationspaktExterner Link und der Verschiebung der Ratifizierung des UNO-Vertrags zum Verbot von Atomwaffen

«Diese Tour bestätigte unsere Analyse, dass es Verbesserungspotenzial gibt und dass es wichtig ist, vor allem die jüngere Generation dafür zu sensibilisieren, warum wir dieses System haben», sagt Hupfer. 

«Wir brauchen mehr Kommunikation. Und das ist nicht nur Aufgabe der Regierung. Es liegt auch an den Organisationen in Genf und den Schulen in den Deutschschweizer Regionen, den Multilateralismus, das Internationale Genf und die UNO als Teil ihres Lehrplans und ihrer politischen Bildung zu haben.» 

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(Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)

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