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Stimme der Fahrenden ist verstummt: Mariella Mehr mit 74 gestorben

Die Schweizer Autorin Mariella Mehr hat als Tochter von Fahrenden in der Schweiz erfahren, was Gewalt und Ungerechtigkeit bedeuten. Ihr Werk zeugt davon. Im Alter von 74 Jahren ist sie am Montag gestorben. (Archivbild) Keystone/GAETAN BALLY sda-ats

(Keystone-SDA) Mariella Mehr gilt als die Stimme der Sprachlosen. Am Montag ist die Schweizer Autorin und Tochter von Fahrenden mit 74 Jahren gestorben, wie der Limmat Verlag am Dienstag mitteilte.

Das Werk von Mehr ist eng mit ihrer eigenen Biografie verknüpft. Gewalt ist darin das zentrale Thema. Sie selbst hat sie von frühester Kindheit an am eigenen Leib erfahren und ein Leben lang literarisch geahndet.

Mehr wurde am 27. Dezember 1947 als Tochter von Fahrenden in Zürich geboren. Gleich nach der Geburt wurde sie zwecks Umerziehung zur Sesshaftigkeit ihren Eltern weggenommen. Ihre Mutter war 1927 eines der ersten Opfer des «Hilfswerks» gewesen, ihr Sohn 1966 eines der letzten. «Ich bin in der ganzen Schweiz aufgewachsen, war in 16 Kinderheimen», sagte Mehr über ihre Kindheit.

Heim, Klinik, Gefängnis

Geprägt war ihre Kindheit von Aufenthalten in Erziehungsanstalten und Psychiatrischen Kliniken und sogar im Gefängnis – ohne Gerichtsurteil. 1966 war ihr Sohn Christian geboren worden. Obwohl Mehr in geordneten Verhältnissen lebte und der Kindsvater sich zu ihr und dem Sohn bekannte, versorgte «Kinder der Landstrasse» sie wegen «sittlicher Verwahrlosung und Arbeitsscheu» administrativ in der Strafanstalt Hindelbank. Ausserdem wurde sie zwangssterilisiert.

Während ihres 19-monatigen Aufenthalts in Hindelbank wurde Mehr auf die Dissertation des Arztes Benedikt Fontana aufmerksam, in welcher er 1967 ihre Verwandtschaft – Originalton: «eine degenerierte Vagantensippe» – beschrieben hatte.

Über sie selber hiess es darin, sie sei eine «verstimmbare, haltlose, geltungsbedürftige und moralisch schwachsinnige Psychopathin mit neurotischen Zügen und einem starken Hang zur Selbstüberschätzung, was ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden, beweist». Ein Protest bei der Universität Bern wegen Rufmords fruchtete nicht, da Fontana die Mehrs durch das Pseudonym «Plur» anonymisiert hatte.

Die «moralisch schwachsinnige Psychopathin mit dem starken Hang zur Selbstüberschätzung» hat über ein dutzend Literaturpreise erhalten, darunter den hochdotierten ProLitteris-Preis für ihr Lebenswerk (2012) und den Bündner Literaturpreis (2016). 1998 erhielt Mehr überdies die Ehrendoktorwürde der Universität Basel «für ihre schriftstellerische Leistung wie für ihr minderheitspolitisches Engagement». 2018 wurde ihr der Anna-Göldi-Menschenrechtspreis verliehen.

Seit den 1970ern engagierte sich Mehr, die sich als Roma verstand, für die Sache der Jenischen und war Mitbegründerin der Radgenossenschaft der Landstrasse. 1975 begann sie zu publizieren, erst journalistisch, ab 1981 literarisch, «Steinzeit» hiess ihr erster Roman.

Ausstrahlung bis nach London

1986 wurde in Bern ihr Theaterstück «Kinder der Landstrasse» uraufgeführt, das unter anderem die Aufmerksamkeit der BBC fand, welche den Stoff im Rahmen einer TV-Serie verfilmte. Daneben verfasste Mehr Gedichte und weitere Romane. Ihre sogenannte Gewalt-Trilogie, bestehend aus «Daskind» (1995), «Brandzauber» (1998) und «Angeklagt» (2002) gilt als Mehrs Hauptwerk.

Dem Limmat Verlag kommt das Verdienst zu, das Werk von Mehr greifbar zu halten, so die «Romantrilogie der Gewalt» sowie den Auswahlband «Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen». Mehrs Rede zur Mittäterschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Entrechtung der Jenischen, die sie zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Basel gehalten hat, soll am 27. Oktober erscheinen.

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