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Weshalb die Schule bei der sexuellen Erziehung mitredet

Geschlechtsteile aus Holz und Plüsch
Stein des Anstosses zu einer emotionalen Debatte: Modelle der Geschlechtsteile aus Holz und Plüsch wurden eine Zeit lang im Sexualkunde-Unterricht an Basler Schulen eingesetzt. Keystone

Auf Kinderfragen zur Sexualität sollen Lehrpersonen situations- und stufengerecht antworten. Dies ist für den obersten Lehrer der Schweiz die Quintessenz eines Urteils des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Laut Beat Zemp bestätigen die Strassburger Richter die Praxis an Schweizer Schulen, dass Kinder am Aufklärungsunterricht teilnehmen müssen.


Ob vom Schwimmen, vom Weihnachts-Singen oder von der Sexualkunde: Immer wieder sorgen Eltern für Aufsehen, die vor Gericht ziehen, um ihre Kinder vom Schulunterricht zu dispensieren.

Letzte Woche liess der EGMR eine Basler Familie abblitzen, die für ihre Tochter eine Dispensation vom Sexualkunde-Unterricht gefordert hatte. Das Urteil markiert das vorläufige Ende einer emotionalen Debatte über Sexualkunde an der Schule, die infolge des Basler Falls in der Schweiz entfacht wurde. Für die Pädagogen dient der Unterricht primär der Missbrauchs-Prävention; für konservative Kreise, die von «Frühsexualisierung» sprechen, bewirkt er das Gegenteil.

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Beat Zemp, oberster Schweizer Lehrer. Keystone

Beat Zemp, Präsident des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz (LCH), begrüsst das Strassburger Urteil. 

swissinfo.ch: Was bedeutet das Urteil des EGMR für den Unterricht?

B.Z.: Der EGMR nimmt zwar nur zum konkreten Fall im Kanton Basel-Stadt Stellung. Aber das Urteil hat durchaus eine normierende Wirkung. 

swissinfo.ch: …will heissen?

B.Z.: …, dass andere Kantone, die Sexualkunde-Unterricht an der Unterstufe ähnlich gestalten wie Basel-Stadt, von diesem Urteil geschützt werden. Das Bundesgericht hatte ja zuvor bereits festgehalten, dass es keinen Dispens für Sexualkunde gebe, wenn diese stufengerecht und situationsgerecht sei – das ist wichtig – und beides ist in Basel-Stadt richtig umgesetzt.

swissinfo.ch: Was bedeutet stufen- und situationsgerecht konkret?

B.Z.: Stufengerecht heisst beispielsweise, dass Unterrichtsmaterialien über Genitalien – wie sie zum Beispiel anhand des Sex-Koffers mit Holz-Penis und Plüsch-Vagina vermittelt werden [Vgl. INFOBOX] – nicht für den Unterricht auf der Unterstufe geeignet sind, sondern für Teenager, für den Unterricht auf Sekundarstufe I.

Umstrittener Sexkoffer

Vor sieben Jahren stellten Pädagogen der Stadt Basel ein Konzept für den Sexualkunde-Unterricht vor. Vor allem konservative Kreise empörten sich. Stein des Anstosses waren sogenannte Sexkoffer, die einen Holzpenis und eine Plüsch-Vagina enthielten und an den Schulen verteilt wurden. Die Koffer verschwanden wieder, aber der Sexualkundeunterricht blieb Bestandteil des Lehrplans.

Situationsgerecht bedeutet zum Beispiel: Wenn in der Klasse die Frage auftaucht, woher die Babies kommen, weil die Lehrerin schwanger ist, oder wenn die Klasse auf dem Pausenplatz ein Kondom findet, dann hat die Lehrperson die Möglichkeit, darauf einzugehen und dies zu Beginn der Lektion kurz zum Thema zu machen, ohne sich dadurch strafbar zu machen  Es wäre eine erzieherische Bankrott-Erklärung, wenn man der Lehrperson verbieten würde, auf solche Kinderfragen keine altersgerechte Antwort geben zu dürfen. 

swissinfo.ch: Wie soll eine Lehrperson ganz konkret in solchen Situationen reagieren? Können Sie ein Beispiel schildern?

B.Z.: Man hört schon in der Primarunterstufe das Schimpfwort «Du schwule Sau». Meistens wissen die betreffenden Schüler gar nicht, was schwul ist. Dann kann die Lehrperson erklären, dass es nicht nur Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen Männern und zwischen Frauen gibt, und dies kein Grund ist, jemanden zu beschimpfen. Wichtig ist, dass man solche Vorfälle nicht einfach ignoriert, sondern situationsgerecht reagiert. 

swissinfo.ch: Manche Eltern sind der Meinung, dass Sexualunterricht Sache der Eltern und nicht der Schule sei. Was antworten Sie ihnen? 
​​​​​​​B.Z.: Es geht primär um den Schutz vor sexuellen Übergriffen. Die Kinder müssen schon im Kindergartenalter wissen: «Mein Körper gehört mir». Und «Es gibt gute und schlechte Berührungen.» Auf der Oberstufe geht es zusätzlich um den Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Diese beiden Risiken sind die Legitimation dafür, dass die Schule einen Eingriff in die sexuelle Erziehungshoheit der Eltern machen darf. Diese Überzeugung wird vom Bundesgericht und jetzt auch vom EGMR geschützt. 

swissinfo.ch: In der Schweiz leben Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen. Sind Konflikte mit gewissen Eltern nicht programmiert, wenn der Sexualkunde-Unterricht ab dem 5. Primarschuljahr nun systematisch durchgeführt wird?

B.Z.: In Gesprächen mit den Eltern und an Elternabenden wird informiert, was genau das Ziel dieses Unterrichts ist, was und wie das Thema behandelt wird und dass niemandem irgendwelche sexuellen Orientierungen oder Praktiken aufoktroyiert werden.  Es geht darum, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Mit einer offenen Information gelingt dies in den allermeisten Fällen. 

swissinfo.ch: Ich stelle mir das sehr anspruchsvoll vor.

B.Z.: Die Lehrpersonen werden an der pädagogischen Hochschule dafür ausgebildet. 

swissinfo.ch: Darf ich als Lehrperson das Thema ignorieren, wenn es mir peinlich ist?

Weihnachts-Singen vor Gericht

Ein vierfacher Familienvater stand letzte Woche vor dem Bezirksgericht Dietikon (Kanton Zürich). Der gläubige Muslim wollte nicht, dass seine drei Söhne an der Hauptprobe für ein Weihnachtssingen im Dezember 2016 teilnehmen. Sein Dispensationsgesuch wurde von der Schulbehörde nur für das offizielle Weihnachtssingen bewilligt, jedoch nicht für die Proben in der Kirche. Weil er seine Kinder auch nicht zu den Proben während des offiziellen Unterrichts schickte, wurde er vom Statthalteramt wegen Verletzung der elterlichen Pflichten mit 500 Franken gebüsst. Der Vater legte Rekurs ein, blitzte aber auch vor dem Bezirksgericht Dietikon ab. Nun will er seinen Fall vor die nächste Instanz ziehen. Bei seinem Vorgehen erhält er Beistand von einem umstrittenen salafistischen Verein, dem Islamischen Zentralrat Schweiz.

B.Z.: Nein, dem kann man sich nicht entziehen, der Sexualkundeunterricht ab Mittelstufe ist Teil des obligatorischen Unterrichts. Aber die Lehrperson kann externe Fachleute beiziehen, die eine spezielle Ausbildung haben. Auf Sekundarstufe I ist das durchaus üblich. In der Romandie übernehmen Fachleute sogar den gesamten Sexualkunde-Unterricht. In der Deutschschweiz ist die erste Ansprechperson in der Regel die Klassen-Lehrperson. Auf der Sekundarstufe I werden auch in der deutschen Schweiz externe Fachleute beigezogen. Manchmal findet der Unterricht für Mädchen und Buben getrennt statt. Bestimmte Fragen wollen die Schülerinnen und Schüler in diesem Alter lieber nicht dem Lehrer oder der Lehrerin stellen.

swissinfo.ch: In jüngster Zeit scheinen sich Gerichtsurteile zu schulischen Belangen zu häufen. Gerichte müssen beurteilen, ob in der Schule Weihnachtslieder, Schwimmunterricht, religiöse Symbole oder Mobiltelefone erlaubt sind oder nicht. Als Lehrperson steht man heute dauernd mit einem Fuss im Gerichtssaal?  

B.Z.: Es gibt Eltern, bei denen keine Argumente helfen und die ihre Sicht der Dinge durch sämtliche gerichtliche Instanzen weiterziehen, zum Teil bis zum EGMR. Und dies ermuntert leider andere, bei ähnlichen Fällen wieder vor Gericht zu gehen.

Es ist tatsächlich problematisch, wenn sich höchste Gerichte mit solchen pädagogischen Fragen wie im Basler Fall zum Sexualkunde-Unterricht abgeben müssen. Oder mit dem Fall eines muslimischen Vaters, der kein Einsehen hatte, sich Bussen und Gerichtskosten von mehreren Tausendfranken einhandelte, und weil er diese nicht bezahlen konnte, sogar ins Gefängnis musste. Nur weil er verhindern wollte, dass seine Tochter am Schwimmunterricht teilnimmt. Dafür habe ich wirklich kein Verständnis.

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