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Als sich Europas Elite in den Schweizer Cafés ausgewanderter Bündner:innen traf

Puschlaver Konditor mit einer Torte
Der Puschlaver Konditor Aristide Luminati (1880-1967) in Gosport, England, mit der Torte, die er für seine Abschlussprüfung gemacht hat. © iStoria

Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich die von ausgewanderten Bündner:innen geführten Kaffeehäuser in den grossen europäischen Städten. Von Kopenhagen bis Parlermo entwickelten sich die Cafés zu Zentren der literarischen, kulturellen und politischen Debatte.

Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich die von ausgewanderten Bündner:innn geführten Kaffeehäuser in den grossen europäischen Städten. Die Cafés wurden zu exklusiven Treffpunkten der kulturellen und gesellschaftlichen Elite. Von Palermo bis Kopenhagen boten diese Lokale nicht nur kulinarische Spitzenprodukte und ein luxuriöses Ambiente, sondern entwickelten sich auch zu Zentren der literarischen, kulturellen und politischen Debatte.

“Die Unterzeichnende erlaubt sich, dem verehrten Publikum mitzuteilen, dass die italienischen Sänger Annato und Perecini täglich in meinem Zelt in Jægersborg Dyrehave auftreten.“ Die Annonce stammt von Barbara Lardelli aus den 1820er-Jahren. Nach dem Tod ihres Ehemannes führte die aus dem Puschlav stammende Bündnerin allein ein Café in Kopenhagen.

Zuerst in Jægersborg und dann in Charlottenlund, am Rande eines Parks im Norden der dänischen Hauptstad. Sie bot im Sommer nicht nur die Köstlichkeiten ihrer Konditorei an, sondern auch musikalische Darbietungen zur Unterhaltung der Kundschaft.

Ein neuer Blick auf die Auswanderung

Es ist der Anfang des goldenen Zeitalters der Schweizer Konditoreien und Cafés im Ausland. Gegründet wurden diese vor allem von Bündner Migrant:innen, darunter viele aus dem südbündnerischen und italienischsprachigen Poschiavo. Zwischen Mitte des 18. bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gab es in europäischen Grossstädten, von Spanien bis England, von Italien bis Polen, einen regelrechten Boom dieser Kaffeehäuser.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden allein in Kopenhagen 18 Cafés gezählt. Die Hälfte befand sich in der Hand von Bündner:innen. „In Dänemark waren diese Etablissements ein neues Phänomen – und die Bündner waren Pioniere für neue Produkte“, sagt die aus dem Puschlav stammende Historikerin Silva Semadeni.

Die fünf Ehefrauen: drei Schwestern, Mutter und Grossmutter, ca. 1884.
Die fünf Ehefrauen: drei Schwestern, Mutter und Grossmutter, ca. 1884. © iStoria

Ausgehend von einem alten Familienfoto rekonstruiert die Puschlaver Historikerin die Geschichte von fünf Frauen aus ihrer Heimat. Für ihre Recherchen durchstöberte sie Archive in Dänemark, Spanien, Chur und Poschiavo und spürte den Abenteuern dieser Frauen innerhalb der Migrationsbewegung der Puschlaver Zuckerbäcker nach.

Das Ergebnis der Recherche ist 2023 in Buchform unter dem Titel «Geboren im 19. Jahrhundert. Geschichten von fünf Puschlaver Frauen» erschienen. Es handelt sich um eine generationenübergreifende Darstellung, die einen neuen und noch wenig erforschten Aspekt veranschaulicht: Das Wirken der Mütter, Töchter und Bräute, die die Männer auf ihren langen Reisen zu ihren Zielen in Spanien und Nordeuropa begleiteten und gleichzeitig für das Wohlergehen der Familie sorgten.

Pasticcieri – Zuckerbäcker ist eine kulturelle VeranstaltungsreiheExterner Link zum Thema Konditorei und Auswanderung, die bis zum 20. Oktober 2024 im Valposchiavo, einem der vier südbündnerischen Täler, stattfindet.

Im 19. Jahrhundert sahen sich viele Valposchiavini gezwungen, das Tal zu verlassen. Viele von ihnen machten ihr Glück in Konditoreien und Cafés in ganz Europa. Sie investierten ihr Kapital auch in Poschiavo und machten es zu einem der schönsten Dörfer der Schweiz.

Verschiedene Veranstaltungen bringen die Geschichte dieser Migranten und den Wandel in Poschiavo näher: eine Ausstellung im Museo ValposchiavoExterner Link, ein audiovisueller Spaziergang durch den Borgo, eine Konferenz über die Cafés der Puschlaver in Europa, ein Festival mit Konditoreikursen, Musik und Theater, eine musikalische Lesung mit Geschichten von Zuckerbäckerschicksalen und eine touristisch-kulturelle Publikation über die Geschichte und den Charme des Borgo di Poschiavo.

«Die Cafés wurden bald zu Treffpunkten für das aufstrebende europäische Bürgertum: Geschäftsleute, Händler, Journalisten, Schriftsteller“, fährt Semadeni fort. „Um diese Klientel anzulocken, legten die Besitzer Zeitungen und Zeitschriften auf und es wurde über Politik und Literatur diskutiert.“

Semadeni betont, dass die historische Forschung über die Rolle der Kaffeehäuser bei der Verbreitung von Kultur, neuen Trends, Fortschritt oder Wissen noch in den Kinderschuhen steckt. «Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Emigrant:innen aus dem Puschlav in erster Linie gewiefte Unternehmer:innen waren, deren Hauptziel darin bestand, Geschäfte zu machen. Erst in zweiter Linie ginge es darum, die Kultur oder liberale Ideen zu fördern.»

café suizo in pamplona
Café Suizo in Pamplona, Spanien, an der Plaza del Castillo 37, wo Bernardo Armando Semadeni-Mini (1858-1941) arbeitete. © iStoria

Treffpunkte der Bourgeoisie

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden über hundert Kaffeehäuser in Europa von Migranten aus dem Puschlav, den Valposchiavini, betrieben. Das dichte Netz der berühmten «Schweizer Cafés», auch bekannt unter dem Namen «Café Suizo», erstreckte sich vom Russischen Reich bis nach Portugal, vom Vereinigten Königreich über Dänemark bis nach Frankreich und Spanien.

Diese Cafés waren Treffpunkte für die liberale Bourgeoisie und boten eine Alternative zu den exklusiven Salons der Aristokrat:innen. Das beliebteste Getränk war selbstverständlich Kaffee, der aus den Kolonien importiert wurde. Daneben gab es Schokolade, Tee, erlesene Weine, Liköre, Digestifs, welche die Ausgewanderten oft selbst hergestellten. Dazu kamen gastronomische Innovationen wie Glacé (Eiscreme).

«Zu Beginn des 19. Jahrhunderts boten zwei Konditoren aus dem Poschiavo in Bilbao (Spanien) den bollo suizo an, ein Butter-Milch-Weggli, der an das traditionelle ‹pan grass› aus dem Valposchiavo erinnert», erklärt Historikerin Semadeni. «Diese Kreation wurde mit der Zeit zu einem der bekanntesten spanischen Gebäckstücke und ist auf der iberischen Halbinsel bis heute noch sehr beliebt.» Oft hätten die Ausgewanderten bei ihrer Rückkehr in der Heimat die Rezepte ausgetauscht und so zur Entstehung einer europäischen Kultur von Süssspeisen beigetragen, erzählt Semadeni.

Die Erfahrung in den Städten Europas und der enge Kontakt zur bürgerlichen Kundschaft beeinflusste auch die Denkweise der Migrant:innen. Zurückkehrende brachten vor allem die Ideen des Liberalismus in ihre Heimat. Die Ausgewanderten kehrten in der Regel als glühende Patriot:innen zurück und wollten die Zukunft des Tals und der Schweiz mitgestalten.

Der neue liberale Geist und die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel hatten wirtschaftliche Initiativen und eine rege Bautätigkeit zur Folge. Es entstanden beispielsweise die ersten öffentlichen konfessionellen Schulen.

Quelle: Ausstellung über Zuckerbäcker im Museum des Valposchiavo, Sommer 2024

Der Erfolg der Cafés erklärt sich jedoch nicht nur durch das verlockende Angebot an Speisen und Getränken, sondern hing auch mit anderen Faktoren zusammen: Zentrale Lage, Ausstattung und Service. So eröffnete die Familie Matossi 1844 das Café Suizo in der spanischen Stadt Pamplona an der zentralen Plaza del Castillo. Es war das erste Café in der Hauptstadt von Navarra.

Ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1891, gab es mehr als 50 «Café Suizos» in 34 spanischen Städten. Das Madrider «El Café Suizo»,Externer Link das 1845 von Francisco Matossi und Bernardo Fanconi an der wichtigsten Strasse der Hauptstadt eröffnet wurde, zeichnete sich durch den Luxus und die Eleganz seiner Räumlichkeiten aus. Es war eines der meistbesuchten Cafés der spanischen Hauptstadt und ein Treffpunkt für bekannte Persönlichkeiten. Es umfasste mehrere Räume, darunter einen Billardraum, einen Leseraum mit Zeitungen und Zeitschriften sowie einen exklusiven Salon für Damen, den sogenannten «Salon blanco».

Konditoren in der Patisserie Semadeni in Marseille
© iStoria

Nach der Musik die Debatten

«Wie in Kopenhagen und anderen europäischen Ländern entsprach das Angebot des von der Familie Lardelli geführten Cafés Lardely in Pamplona den neuen Entwicklungen in der Gesellschaft“, schreibt Semadeni in ihrem Buch.

Sie erinnert daran, dass dort in den 1920er-Jahren auch der weltbekannte amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway zu Besuch war, der ein  Fan der dortigen Stierkämpfe war und diese in seinem Roman «Fiesta» beschrieb.

Die Gäste des Café Lardely erfreuten sich an den «süssen Harmonien eines klangvollen Klaviers», schrieb eine lokale Wochenzeitung im Jahr 1860. Dasselbe geschah im Café Suizo in Vigo, das auf Initiative von zwei Poschiavini eröffnet wurde. Jeden Abend spielte dort 1897 ein Pianist Werke von Chopin, Mendelssohn und anderen Komponisten.

Hier hielt sich auch der bekannte Schriftsteller und Abenteurer Jules Verne 1878 auf. Er las die die internationale Presse, während sein Schiff im Hafen lag.

Café Mendez Nuñez in Vigo
Café Mendez Nuñez in Vigo, gekauft um 1880 von den Poschiavo-Emigrant:innen Giovanni Lendi (1852-1890) und Emilia Lendi-Matossi (1858-1941) © iStoria

In Palermo, im Café Caflisch in der Via Roma, das von der ursprünglich aus dem Engadin stammenden Familie gegründet wurde, die zahlreiche Cafés, Kaffeeröstereien und Kolonialwarenläden in Neapel, Brindisi und Catania betreibt, soll Tomasi di Lampedusa „Der Leopard“ geschrieben haben.

In Florenz war das Café Giubbe Rosse, benannt nach der Farbe der Uniformen der Kellner, ein Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler:innen, die mit der Zeitschriftengruppe «Lacerba“ und dem Futurismus verbunden waren, wie Palazzeschi, Papini, Soffici und Rosai.

In Berlin wiederum besuchte Heinrich Heine das bekannte Café der Gebrüder Josty, die ursprünglich aus Sils Maria im Engadin stammten. In seinen Schriften erinnert sich der deutsche Dichter mit Begeisterung an die Tätigkeit dieser Zuckerbäcker. In St. Petersburg sassen an den Tischen des legendären Café Chinois, das von Salomon Wolf und Tobias Branger aus Davos eröffnet wurde, Künstler und Schriftsteller wie Puskin, Dostojewski und Gogol.

Innenraum des Café Suizo in Zaragoza, Spanien.
Innenraum des Café Suizo in Zaragoza, Spanien. © iStoria

Das Ende einer Epoche

Mit der Zeit wurde die musikalische Unterhaltung auch in anderen Lokalen wie Bierstuben und Musiksälen angeboten. Die Bündner verloren damit die Exklusivität dieses Angebots und es wurde notwendig, neue Ideen zu entwickeln, um sich zu profilieren und das lokale Bürgertum, die Intellektuellen und Literaten anzuziehen.

«Im Café Suizo in Madrid wurden so genannte Tertulias, literarische und politische Debatten, organisiert“, erinnert Semadeni und zitiert die Forschungsarbeiten der spanischen Professorin Mónica Vázquez Astorga.

«Die berühmtesten Persönlichkeiten der damaligen Zeit nahmen an diesen Anlässen teil, bei denen aktuellen Themen diskutiert wurden. Es waren Veranstaltungen, die bis zu 500 Teilnehmende anziehen konnten.»

Nach seiner Renovierung im Jahr 1884 bestand der als „el café de la bohemia“ bekannte Treffpunkt aus einem riesigen, eleganten Saal, der nach den neuesten Trends mit roten Samtsesseln, grossen Spiegeln und 100 Marmortischen eingerichtet war.

Konditoren in einem Schweizer Café in Southampton
Konditoren in der Konditorei und dem Schweizer Café von Pietro Rodolfo Lardi-Semadeni (1866-1942) in Southampton, England. © iStoria

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schloss das Café Suizo in Madrid seinen Betrieb, viele weitere Kaffeehäuser folgten. Die Zeitung «El Liberal“ beschrieb diese Phase im Jahr 1919 wie folgt: «Das alte Etablissement – einst das vornehmste und aristokratischste in Europa – besass einen Hauch von tiefer Melancholie, der sich besonders in den Spiegeln zeigte, die wie grosse stumme Tränen an den Wänden hingen. Das Suizo blieb immer das ehrliche Café des Madrider Grossbürgertums.»

Mit den umwälzenden Ereignissen der internationalen Politik, dem Ersten Weltkrieg, der Russischen Revolution und dem Spanischen Bürgerkrieg, ging die Auswanderung der Bündner Konditoren und Zuckerbäcker zu Ende und damit die Präsenz der Cafés Suizos in Spanien sowie generell der Schweizer Kaffeehäuser im Ausland.

Es war der Abschluss einer Ära, die nicht nur in den grossen europäischen Städten, sondern auch in den Herkunftstälern der Emigranten, wie dem Valposchiavo, deutliche Spuren hinterlassen hat.

Übetragung aus dem Italienischen von Gerhard Lob

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