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Ariane Rustichelli: «Interessen der 5. Schweiz wurden vor Covid-19 stärker berücksichtigt»

Eine Frau am Rednerpult
Ariane Rustichelli spricht am Kongress vom Juli 2024 in Luzern zu den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern. Nicolas Brodard

Der berufliche Weg von Ariane Rustichelli wird sie 2025 zu neuen Ufern führen. Nach fast 17 Jahren bei der Auslandschweizer-Organisation (ASO), davon zehn Jahre als Direktorin, gab sie diese Woche ihren Rücktritt aus der Interessenvertretung der Schweizer Diaspora bekannt.

Schnellere und komplexere Arbeit, finanzieller Druck, Modernisierung der Strukturen: Die Auslandschweizer-Organisation steht vor zahlreichen Herausforderungen.

Während ihrer zehnjährigen Tätigkeit an der Spitze der Lobby der Fünften Schweiz hat Ariane Rustichelli zahlreiche Umbrüche miterlebt und die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Diaspora aus nächster Nähe verfolgt.

Sie zieht im Interview Bilanz über ihre Erfahrungen und die Herausforderungen, die in den kommenden Monaten und Jahren auf die ASO und die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland zukommen werden.

SWI swissinfo.ch: Sie haben sich entschieden, die Auslandschweizer-Organisation nach 17 Jahren zu verlassen. Was sind die Gründe dafür?

Ariane Rustichelli: Mein Rücktritt hat sehr persönliche Gründe, denn ich bin dieses Jahr 50 Jahre alt geworden. Man hört oft, dass man in diesem Alter Bilanz zieht, was mich immer zum Schmunzeln gebracht hat.

Aber ich muss zugeben, es stimmt! Ich habe einfach das Bedürfnis, mich in den verbleibenden Berufsjahren neuen Herausforderungen zu stellen.

Wie sehen Ihre Projekte aus?

Was mich an meiner Arbeit bei der ASO immer am meisten begeistert hat, ist die menschliche Dimension. Die Möglichkeit, sich mit Akteuren und Akteurinnen mit unterschiedlichen Meinungen an einen Tisch zu setzen und Kompromisse zu finden.

Aus diesem Grund werde ich bei der Invalidenversicherung des Kantons Bern die Leitung der neu geschaffenen Abteilung «Partnerschaften und Netzwerke» übernehmen.

Meine Erfahrungen bei der ASO, wo ich zwischen politischen, strategischen und menschlichen Herausforderungen navigiert habe, werden mir bei der Strukturierung und Dynamisierung dieser neuen Abteilung zugutekommen. Ich bin überzeugt, dass Stakeholder-Management der Schlüssel zu innovativen und integrativen Lösungen ist.

Ist Ihre Arbeit als Direktorin der ASO in den letzten Jahren komplexer geworden?

Auf jeden Fall. Die Position hatte schon immer eine starke politische Dimension, aber im Lauf der Jahre sind weitere Aspekte hinzugekommen: die Entwicklung des Netzwerks, die digitale Transformation und das Management der zahlreichen Partnerschaften. Heute arbeiten wir nicht mehr in Silos, sondern in einer übergreifenden Logik.

Um das Sekretariat der Netzwerkplattform «SwissCommunity» zu leiten, braucht man ein breites Kompetenzspektrum, es bedeutet Abwechslung und Multitasking.

An einem einzigen Tag kann ich von strategischen Diskussionen auf sehr hoher Ebene zu sehr konkreten operativen Aufgaben wechseln.

Es sind diese Vielseitigkeit und die Fähigkeit, Synergien zu finden, die eine kleine Struktur wie die unsere voranbringen.

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Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer engagieren sich weniger als früher. Dies zeigt sich unter anderem an den sinkenden Mitgliederzahlen der Schweizervereine im Ausland. Braucht es die ASO weniger als früher?

Ich glaube nicht, dass es sich um Desinteresse handelt, sondern eher um eine veränderte Erwartungshaltung und Sozialisation. Heute suchen die Menschen einen direkteren und unmittelbareren Austausch, oft über soziale Netzwerke, die unsere Art zu kommunizieren verändert haben.

Schweizerinnen und Schweizer im Ausland treffen sich punktueller als früher, oft anlässlich eines besonderen Ereignisses wie der Bundesfeier am 1. August.

In einer instabileren Welt mit zunehmenden geopolitischen Spannungen kontaktieren uns die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer vor allem dann, wenn sie mit Schwierigkeiten konfrontiert sind.

Wir stellen auch fest, dass die Menschen in Notsituationen anspruchsvoller und ungeduldiger werden und eine schnellere und bessere Antwort verlangen. Dies zwingt uns auch, die Art und Weise unserer Zusammenarbeit mit der Community im Ausland zu überdenken.

Sind Arbeitsweise und Struktur der ASO diesen neuen Anforderungen gewachsen?

Die Organisation steht vor grossen institutionellen und strategischen Herausforderungen. Die Struktur hat sich schon immer weiterentwickelt, aber in den letzten Jahren hat sich das Tempo deutlich beschleunigt, was auch mit den Veränderungen in der Gesellschaft zusammenhängt.

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, haben wir auf die kollektive Intelligenz gesetzt und die Bildung von Arbeitsgruppen im Auslandschweizerrat gefördert.

So können wir das Fachwissen der Delegierten nutzen und mit den Erwartungen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer Schritt halten.

Gerade unter den Delegierten waren in den letzten Monaten kritische Stimmen zu vernehmen, die sich besonders auf das Wahlsystem des Auslandschweizerrats bezogen, der gemeinhin als «Parlament» der Fünften Schweiz bezeichnet wird.

Diese Kritik ist vor allem ein Zeichen für ein klares Bekenntnis zur ASO. Ich gebe zu, dass mich diese Kritik am Anfang etwas schockiert hat, aber im Nachhinein ist mir klar geworden, dass es eine gute Sache war.

Vielleicht war es auch der Moment, in dem ich anfing, über die Routine nachzudenken, in der ich mich eingerichtet hatte. Denn ich sehe mich eher in der Rolle der Macherin als der Verwalterin.

Ariane Rustichelli hat an der Universität Neuenburg Kunstgeschichte, Geschichte und Journalismus studiert.

Sie ergänzte ihren Werdegang mit Ausbildungen in Marketing, einem EMBA in Innovation und nachhaltiger Entwicklung sowie einem Diplom in strategischem Management von Nichtregierungsorganisationen.

Nach einem Karrierestart in der Uhrenindustrie stieg sie in den Kultursektor ein, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kommunikationsberaterin tätig war.

2008 wechselte sie als Leiterin Marketing und Kommunikation zur Auslandschweizer-Organisation (ASO). Seit 2014 ist sie Co-Direktorin und seit 2019 Direktorin der Organisation.

Um die Finanzen der ASO steht es nicht zum Besten, da sich grosse Sponsoren teilweise oder ganz zurückgezogen haben. Der Auslandschweizerkongress, das Aushängeschild der Organisation, findet nur noch alle vier Jahre statt, und seit mehreren Jahren hat kein Bundesrat mehr daran teilgenommen. Haben die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer auch das Interesse an der Politik verloren?

Ich habe den Eindruck, dass die Interessen der Fünften Schweiz bis 2020 und der Covid-19-Pandemie vielleicht stärker berücksichtigt wurden.

Seither hat sich mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten eine ausserordentliche Situation an die andere gereiht.

Diese neue geopolitische Situation erfordert politische Reaktionen und grosse finanzielle Investitionen auf Regierungsebene, was dazu führt, dass andere Themen wie die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer unter dem Radar verschwinden. Das ist sehr bedauerlich.

Der Kongress wird neu alle vier Jahre stattfinden, und in den anderen Jahren werden die «SwissCommunity Days» organisiert, eine abgespeckte und neu konzipierte Version. Auch hier erfinden wir uns neu!

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Nachdem Tim Guldimann, von 2015 bis 2018 der einzige Vertreter der Fünften Schweiz im Nationalrat, aus dem Parlament ausgeschieden ist und Filippo Lombardi, ein leidenschaftlicher Verfechter der Interessen der Fünften Schweiz, 2019 nicht mehr in den Ständerat gewählt wurde, stellt sich die Frage, ob es noch starke Stimmen gibt, welche die Anliegen der Diaspora vertreten können.

Die Gesellschaft hat sich von einem hierarchischen Ansatz, bei dem Entscheide von oben herab getroffen werden, zu einem kollektiven und kollaborativen Denken gewandelt.

Heute gibt es selten einen einzigen Sprecher oder eine einzige Sprecherin, sondern mehrere, die koordiniert zusammenarbeiten. Das ist vielleicht weniger spektakulär, aber nicht weniger effektiv. Und das ist das Wichtigste.

Welchen Herausforderungen muss sich die ASO in den nächsten Jahren stellen?

In erster Linie muss die Organisation mit den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern in Kontakt bleiben und auf ihre Bedürfnisse eingehen. Zudem gilt es, künftige Veränderungen zu antizipieren, um die Relevanz der Organisation zu gewährleisten.

Schliesslich wird auch das kleine Team des ASO-Sekretariats durch die anstehenden Veränderungen weiterhin stark gefordert sein. Jede einzelne Person spielt eine wichtige Rolle und braucht starke Schultern, um diese Herausforderungen zu meistern.

Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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