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Aus der Schweiz nach Brasilien: Indigene Völker erhalten ihre Musik zurück

Archivarbeit
Indigene Personen stellen im Museum in der Schweiz Beziehungen zu ihrem immateriellen und materiellen Kulturerbe her. zvg

Ethnologen aus der Schweiz haben vor mehr als vierzig Jahren Tonaufnahmen im Amazonasgebiet gemacht. Nun wird das Kulturerbe nicht nur rückgeführt, sondern resozialisiert. Dieser Ansatz ist international einzigartig.

Wem gehört ein Lied? Mit dieser Frage hat sich Professor Matthias Lewy intensiv befasst. Der Professor für Musikwissenschaften an der Hochschule Luzern hat viele Jahre in Venezuela und in Brasilien gelebt und geforscht.

Die Indigenen im brasilianischen Amazonasgebiet verstehen unter Urheberrecht etwas anderes als die globalisierte Welt: Ein Mensch, der ein Lied erfindet oder interpretiert, ist nicht der Urheber und verfügt also auch nicht alleine über das Lied.

Die Urheber der indigenen Musik sind Tier- und Pflanzengeister, es können aber auch Berge und Flüsse sein. Und die Musik behält eine Lebendigkeit, auch wenn sie aufgenommen, auf einem Tonband festgehalten und später digitalisiert wird.

«Aufnahmen werden häufig selbst als Existenzweisen, also Wesen, betrachtet, weshalb es sich mit den Aufnahmen zu resozialisieren gilt», sagt Lewy.

Diese Auseinandersetzung brachte den Musikwissenschaftler zu seinem jetzigen Projekt: zur Rückführung von Musikaufnahmen der indigenen Volksstämme der Aparai und Wayana von Genf nach Brasilien.

Tonbänder aus den 1960er-Jahren

Schweizer Ethnologen haben diese Tonbänder, die im Musée d’ethnographie in Genf lagern, in den 1960er- bis 1990er-Jahren aufgenommen. Zwischenzeitlich sind die Aufnahmen digitalisiert – mit Einverständnis der indigenen Gemeinschaften.

«Eine der wichtigsten Aspekte der Rückgabe indigener Musik ist die Rettung und Bewahrung der Erinnerung an indigene Völker», sagt die Musikwissenschaftlerin Evelyn Tainá Silva von der Universidade Federal do Pará in Belem, Brasilien.

Silva arbeitet mit Lewy zusammen an der Rückgabe der Musikaufnahmen aus der Schweiz. Die Rückgabe der Aufnahmen sei eine «Wiedergutmachung und bietet den Völkern die Möglichkeit, einen Teil der Vergangenheit zurückzugewinnen».

evelyn taina silva
Evelyn Tainá Silva zvg

Der ganzheitliche Ansatz des brasilianisch-schweizerischen Projekts ist weltweit einzigartig. Die Restitution von immateriellem Kulturerbe ist für sich nichts Neues.

Das fundamental Andere an Lewys Projekt ist, dass die Musikaufnahmen in ihrer ursprünglichen Umgebung resozialisiert werden sollen. Ein solches Projekt habe es, soweit Lewy weiss, noch nie gegeben.

Was bedeutet es, Musik zu resozialisieren? Konkret heisst es unter anderem zusammen mit der indigenen Bevölkerung zu klären, wer die Musik wann, wo und zu welchem Zweck hören und verwenden darf.

Aber um die Arbeit von Lewys Team zu verstehen, muss man die indigene Perspektive nachvollziehen. Nicht nur sind die Urheber der Musik Teil der natürlichen Geisterwelt, die Musik hat eine andere Funktion: Über Musik können die Tiere – und andere Wesen – mit den Menschen kommunizieren.

Grenzen zwischen Tieren und Menschen sind fliessender

«Es gibt Publikationen von Musikethnologen, die sagen, wenn man über die Rechte von indigener Musik erfahren will, muss man mit dem Jaguar sprechen», sagt Lewy.

Die Grenzen zwischen Mensch und Tier sind im Amazonasgebiet fliessender, die Tiere haben in der indigenen Vorstellung ebenfalls einen menschlichen Kern.

So kann eine menschliche Stimme zwar ein Lied wiedergeben, doch es wird nicht dieser Person zugeordnet. «Meistens ist es der Herr der Tiere, der Herr der Wildschweine, der den Menschen so seinen Gesang bringt», sagt Lewy.

Die Menschen nutzen ihrerseits den Gesang der Tiere, wenn sie auf der Jagd sind und ihnen eine Klangfalle stellen, um sie anzulocken. Im schamanischen Kontext werden Lieder beispielsweise als Zauberspruch verwendet. Manche Lieder sind nur für bestimmte Zwecke und ein bestimmtes Publikum.

Das schafft Herausforderungen für Musikwissenschaftler:innen. Im Museumsarchiv in Genf lagern Tonbänder aus Brasilien, auf denen «Bitte nicht digitalisieren» steht. «Darauf sind Zaubersprüche, mit denen man die Welt transformieren kann», sagt Lewy.

Für Uneingeweihte seien sie ungefährlich, aber für Menschen mit einem Bezug zu dieser Musik ist das anders. Wie mit diesen Aufnahmen verfahren werden soll, muss noch geklärt werden. Noch sind sie nicht digitalisiert worden.

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Archivierung im Austausch mit indigener Bevölkerung

Der andere Bezug zu den Musikaufnahmen führt auch zu neuen Aspekten, die bei der Archivierung der Musik berücksichtigt werden müssen. Die Wissenschaftler:innen tauschen sich ständig mit Vertreter:innen der indigenen Bevölkerung aus.

«Das Labor für Ethnomusikologie an der Universität von Pará hat im Laufe von zehn Jahren Forschung über Musik in und aus dem Amazonasgebiet spezifische Strategien für die Archivierung, Erhaltung und Verbreitung von Musik, Klängen und Klangobjekten auf nachhaltige und respektvolle Weise entwickelt», sagt die Musikwissenschaftlerin Silva.

Die indigenen Gemeinschaften können selbst entscheiden, wie ihre Sammlungen behandelt werden. «So wird die Nachhaltigkeit und die Achtung der Traditionen und Rechte der betroffenen Bevölkerung gewährleistet.»

Dies entspricht auch den Unesco-PrinzipienExterner Link für die Arbeit mit immateriellem Kulturerbe, nach denen die Gemeinschaften selbst die «vorrangige» Rolle bei der Erhaltung spielen.

Musik für die kulturelle Ausbildung

Ane Keila ist eine Indigene der Gemeinschaft Dessana. Eine brasilianische UniversitätExterner Link hat ihrem Volk vor einigen Jahren eine Musiksammlung zurückgegeben. Die Indigenen bestimmen nun selbst, ob und wie die Musik geteilt werden darf. «Das macht mich sehr glücklich», sagt Keila.

Die Musik dient den Dessana nun auch der Bildung für die jüngeren Generationen. «Wir können sie als Unterrichtsmaterial für die indigene Schulbildung verwenden», erklärt Keila. Dank der Aufzeichnung der Lieder drohen sie nicht, beim Tod der Ältesten in Vergessenheit zu geraten.

«Durch die Musik lernen wir unsere Geschichte kennen, wir lernen, zu den Melodien der Carriçú, Japuturu, Mauaco und anderer zu tanzen, und alles hat eine Bedeutung», sagt Keila. «Jeder Rhythmus und jede Berührung lehrt uns etwas über unsere Kultur.»

indigene Frauen
Die Frauen führen einen Begrüssungstanz in der Aldea Bona (Aparai-Wayana) durch. zvg

Am 20. September 2024 hat Matthias Lewy im Musée d’ethnografie in Genf zusammen mit Indigenen der Aparai und Wayana eine Klanginstallation eröffnet. Dies ist Teil des Projekts.

Die Museen nehmen eine wichtige Funktion ein, sie sorgen nicht nur dafür, dass wir uns mit einer anderen Welt befassen können, sondern tragen dazu bei, dass Indigene ihre materielle und immaterielle Kultur wieder erarbeiten können», sagt Lewy.

Resozialisierung bedeute für die indigenen Personen nicht nur die Verschiebung eines Objekts oder einer Musikaufnahme. «Sie möchten eine Beziehung zu den Objekten und den Geistern, die besungen werden, herstellen.»

So gehe es auch darum, in Museen Objekte, die zusammengehören, entsprechend zu arrangieren. Das können zum Beispiel ein Musikstück und ein Pfeilbogen sein, die zusammengehören.

Lieder sind nicht zum Mitsingen gedacht

Auf die Frage, ob in der Sammlung des Genfer Museums auch Lieder lagern, die in den Urwäldern Brasiliens längst vergessen sind, antwortet Lewy, das zeuge von einer «westlichen Sicht».

«Melodie und Rhythmus haben nicht die gleiche Bedeutung wie in Europa», sagt Lewy. Ein Lied muss nicht wiedererkennbar sein, viel wichtiger sei zum Beispiel das Instrument, das gespielt wird, weil es einen Bezug zu einem bestimmten Tier oder einer Pflanze hat.

Im Schamanismus werden für die Gesänge manchmal geheime Sprachen gebraucht. Je intensiver die Interaktion eines Schamanen oder einer Schamanin mit einem Geist wird, desto zufälliger kann die Musik werden. Musik wird nicht für Beifall vorgetragen, die singende Person steht sogar oft mit dem Rücken zum Publikum.

Ob aus dem Genfer Museum auch analoge Tonbänder nach Brasilien restituiert werden, ist momentan noch unklar. Denn bei Tonbändern stellt sich die Frage nach der sicheren Aufbewahrung speziell.

«Eine Gruppe von Indigenen hat bei einem Besuch in der Schweiz festgestellt, dass die Qualität der Aufbewahrung im Museum in Genf eine ganz andere ist», sagt Lewy.

Der Zeitpunkt für die Resozialisierung der Genfer Musikaufnahmen ist günstig, denn die Aufnahmen sind nicht älter als 50 Jahre. Die Indigenen, die im Prozess mitarbeiten sind, kennen die Stimmen auf den Aufnahmen.

Es sind die Stimmen ihrer Väter.

Damit die aus der Schweiz nach Brasilien zurückgebrachte Musik auch in Zukunft gefunden und genutzt werden kann, muss sie sinnvoll und sicher archiviert werden. Auf der Schweizer Seite des Projektteams ist Yannick Wey dafür zuständig.

Er ist Spezialist für immaterielles Kulturerbe in der Schweiz, das zum Teil auch gefährdet ist. So hat er sich mit der Dokumentation und der Verbreitung des Kurzalphorns Büchel beschäftigt, das er auch selbst spielt.

«Beim Archivieren geht es immer darum, die sich ändernden Gegebenheiten im Auge zu behalten», sagt er. Zum Beispiel die Technik. Mit der digitalen Archivierung können wichtige Zusatzinformationen wie Angaben zu Instrumenten und Sänger:innen hinzugefügt werden.

Zustimmung zur digitalen Speicherung

Damit diese Informationen korrekt sind, werden Älteste und indigene Spezialist:innen miteinbezogen. «Dies ist unerlässlich, um sicherzustellen, dass die symbolischen Aspekte der Musik erhalten bleiben und richtig verstanden werden», sagt die brasilianische Musikwissenschaftlerin Evelyn Tainá Silva.

Die digitale Speicherung in einer Cloud ist eine Archivierungsvariante, die zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch nicht existierte. Doch die indigenen Gemeinschaften haben die Zustimmung gegeben, dass dies im Einklang mit ihren kulturellen Verständnissen und Bedürfnissen sei, so Silva.

Dieses Verfahren wurde vom Laboratório de Etnomusicologia der UFPA (Universidade Federal do Pará) entwickelt.

Editiert von Benjamin von Wyl

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