«Nach einer Dusche sind sie andere Menschen»
Peter Rechsteiner lebt in Brasilien. Jede Woche fährt er dort mit einer mobilen Dusche durch die Gegend – damit Obdachlose sich wieder einmal pflegen können. Zuvor, in der Schweiz, stand er kurz vor einem Burnout.
Für den 61-jährigen Peter Rechsteiner standen nicht soziale Tätigkeiten im Vordergrund, als er vor zehn Jahren ausgewandert ist. Heute aber engagiert er sich für die gemeinnützige Organisation «Chuveiro SolidárioExterner Link» (auf Deutsch «Solidaritäts-Dusche»), die mit sanitären Anlagen durch die Gegend fährt.
Damit wird Obdachlosen ermöglicht, sich zu duschen, zu rasieren und frische Kleider anzuziehen. «Es ist wahnsinnig, wie sich die Hygiene auf die Psyche des Menschen auswirkt», erzählt der gelernte Schreibmaschinen-Mechaniker am Telefon mit SWI swissinfo.ch.
Leben im Tessin Brasiliens
Hauptgrund für Rechsteiners Schritt ins Ausland war – neben den Finanzen – eine Lebenskrise. Er sei in seinem Job als Lichtdesigner kurz vor einem Burnout gestanden. «Dann habe ich gekündigt», sagt er. Acht Jahre habe er sich vorbereitet, bis er und seine brasilianische Frau den Schritt in deren Heimat gewagt hätten.
Nach unzähligen Ferienaufenthalten und Besuchen bei Familie und Freunden im Nordosten Brasiliens war alles bereit, um von Herisau nach Natal überzusiedeln. Jetzt leben die Rechsteiners schon fast zehn Jahre dort. «Die Region ist vergleichbar mit dem Kanton Tessin», sagt er. Es sei zwar eine arme Region ohne Industrie, dafür herrsche immer schönes Wetter.
Touristenführer und Schweinezüchter
Die Gegend baut stark auf den Tourismus. Davon profitiert auch Peter Rechsteiner. Er organisiert Ferien für Leute, die sich für das Leben in Brasilien interessieren. Er kümmert sich dann nicht nur um das Reiseprogramm der Touristen, sondern fungiert auch als Fahrer oder Gastgeber. «Falls es gewünscht wird, kann man auch bei uns leben», sagt er.
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Dem Land etwas zurückgeben
Der 61-Jährige hat in den vergangenen Jahren einige Projekte verwirklicht. «In Brasilien kann man Sachen machen, die man in der Schweiz nicht unbedingt umsetzen würde», sagt er. So hat er etwa mit seinem Schwiegervater eine Schweinezucht aufgebaut. «Ich hatte vorher keine Ahnung von Säuen.»
Der Appenzeller müsse nicht voll arbeiten, um gut zu leben. «Hier habe ich Zeit und es geht mir gut», sagt er. So gut, dass er dem Land, das ihn mit offenen Armen aufgenommen hat, etwas zurückgeben will.
«Bei ‹Chuveiro Solidário› hatte niemand ein Fahrzeug, das einen Anhänger ziehen konnte», erzählt Rechsteiner. Weil er ein solches Fahrzeug besitzt, wurde er von der Institution angefragt. Seither fährt er immer am Mittwochabend mit einem Duschwagen an verschiedene Plätze – etwa in der Nähe eines Spitals oder beim grossen Markt.
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Unterwegs mit Chuveiro Solidário in Brasilien
Emotionale Einsätze
Rechsteiners Portugiesisch-Kenntnisse sind rudimentär. Er kann sich deshalb nur beschränkt mit den Bedürftigen verständigen. Es brauche aber auch nicht viele Worte. «Nach einer Dusche sind sie andere Menschen», erzählt er.
«Es ist wahnsinnig, wie sich die Hygiene auf die Psyche des Menschen auswirkt.»
So ist ihm das Schicksal von einem Mann nahe gegangen, den er und seine Kollegen von «Chuveiro Solidário» vor rund drei Monaten aus einem Graben gezogen hätten. «Er war praktisch tot, so schlecht ging es ihm zu diesem Zeitpunkt.» Sie haben ihn gewaschen, versorgt und dann ins Spital gebracht. «Mittlerweile ist er wieder auf den Beinen und kommt regelmässig vorbei.»
Der Vater von zwei erwachsenen Söhnen investiert ungefähr einen Tag pro Woche für die Institution. Neben dem Fahren des Anhängers kümmert er sich auch um die Technik. «Wenn ich die Sachen nicht selber flicken kann, dann berappe ich sie mit meinem eigenen Geld.»
Hygieneartikel und Kleider
Ende 2018 lebten in Brasilien 13’966 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, davon 7303 Frauen.
Dies ist der im März 2019 publizierten Erhebung des Bundes zu entnehmen. HierExterner Link finden Sie die Anzahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer nach Wohnsitzstaat bzw. -gebiet.
«Chuveiro Solidário» ist kein Verein und hat kein Geld zur Verfügung. Die ehrenamtlichen Helfer – die meisten mit christlichem Hintergrund – sammeln laufend Kleider, Seife, Shampoo, Zahnbürsten und Zahnpasta. «Im Verhältnis haben wir nie genug Männerkleider.»
Die letzten Gäste aus der Schweiz, für die Rechsteiner den Urlaub in Brasilien organisiert hat, haben ebenfalls Kleider und Spielzeug mitgebracht. «Das wird hier sehr geschätzt.»
Ihm sei bewusst, dass sein Engagement nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist. «Aber wenn jede Person, der es gut geht, zwei anderen hilft, die bedürftig sind, dann ginge es vielen Menschen besser», so sein Fazit. «Eigentlich wäre es ‹u huere› einfach.»
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