Automatendorf Sainte-Croix: Wo die Kunstmechanik noch lebt
In Genf steht für kurze Zeit ein Metier im Rampenlicht, das ansonsten fast in Vergessenheit geraten ist: Die Herstellung von Automaten. Das Museum für Kunstmechanik präsentiert im Rahmen der Ausstellung “Mechanical Marvels” das kulturelle Erbe der Automatenbauer:innen aus Sainte-Croix (VD), die mit ihrer grandiosen Handwerkskunst unzählige “lebende” Skulpturen geschaffen haben.
Sainte-Croix wird oft als “Silicon Valley der Automaten” bezeichnet. Wobei der Vergleich etwas gewagt ist, erscheint das kleine Nest im Waadtländer Jura im Vergleich zum Nabel der Informatikwelt doch eher wie ein kleines Schatzkästchen aus vergangenen Zeiten – eine Schmuckschatulle, in der sich mechanische Wunderwerke verstecken.
“Wir haben hier ein Kunsthandwerk, das eine jahrhundertealte Tradition hat”, erklärt Denis Flageollet, Uhrmachermeister aus Sainte-Croix und Gründer der Marke De Béthune.
«Erz und Holz für den Schmelzvorgang waren früher in Fülle vorhanden, und die Bauern hatten im Winter Zeit für andere Arbeit. Die Uhrmacher in Genf vertrauten ihnen deshalb die Herstellung seltener und ausgefallener Geräte wie Musikautomaten oder Spieluhren an.»
Die Aufklärung brachte den Schöpfer:innen von Automaten grosse Wertschätzung. So bezeichnete Voltaire den französischen Ingenieur und Automatenbauer Jacques de Vaucanson als «Prometheus’ Rivale».
Im 19. Jahrhundert wurden die Hersteller:innen von Musikautomaten dann sowohl als Hexer bzw. Hexen verschrien als auch als begnadete Schausteller:innen bewundert.
Und sie haben Spuren in der Literatur hinterlassen, wie Hans Christian Andersens mechanischer Vogel in “Des Kaisers Nachtigall” oder E.T.A. Hoffmanns Puppe Olympia in “Der Sandmann”.
In der Geschichte der Automaten verschmelzen Mythos, Wissenschaft und Handwerkskunst. Einige der entstandenen Schöpfungen sind in namhaften Sammlungen heute noch zu bewundern.
Das Museum für Kunst und Geschichte NeuenburgExterner Link verfügt über drei der bedeutendsten Werke der Schweizer Uhrmacher- und Automatenfamilie Jaquet-Droz.
Die drei Automaten – der Zeichner, die Musikerin und der Schriftsteller – mit ihren eindrücklichen Federhäusern und komplexen Getrieben verzücken heute noch genau so wie damals im 18. Jahrhundert.
Renaissance der Automaten
“Wenn uns heute junge Menschen besuchen, sind sie meist überrascht, weil sie dachten, die Zeit der Automaten sei schon lange vorbei”, sagt François Junod, Automatenhersteller und Bildhauer. Junod ist in Sainte-Croix aufgewachsen und leitet heute ein weltweit bekanntes Atelier in seinem Heimatdorf.
Er kann etwas Verbitterung darüber nicht verhehlen, dass sein Beruf einst vom Aussterben bedroht war. Trotzdem hält er mit Stolz fest, “dass wir heute eine Renaissance unserer Handwerkskunst erleben. Die technischen Fertigkeiten, die Emotionen und der Zauber der Mechanik werden endlich gewürdigt.”
In seiner Bescheidenheit erwähnt Junod nicht, dass die Automatenkunst zu einem grossen Teil dank seines Talents wieder auflebt. 2010 beispielsweise konstruierte er auf Bestellung aus den USA einen Automaten, der Alexander Puschkin darstellt, den bekannten russischen Dichter aus dem 19. Jahrhundert. Der Android kann schreiben, zeichnen und mittels Mimik auch Gefühle ausdrücken.
Mit seinen acht Angestellten stellt Junod auch heute androide Automaten her, sein Auftragsbuch ist voll. Während die Automaten früher für königliche Höfe gebaut wurden, sind die “göttlichen Maschinen” heute unter Sammlern und bei Luxusmarken sehr begehrt.
Seit vielen Jahren arbeitet Junod mit Van Cleef & Arpels zusammen. Für das französische Luxusunternehmen hat Junod 2017 den Automaten “Fée Ondine” geschaffen. Die Konstruktion besteht aus einer kleinen Fee, die erwacht, einer Seerosenblüte, die sich entfaltet, und einem Schmetterling, der sich dreht und mit den Flügeln schlägt.
2022 gewann der Automat “Fontaine des Oiseaux” den Grand Prix d’Horlogerie de Genève, quasi den Oscar der Uhrenwelt. Im gleichen Jahr wurde François Junod von der Jury mit einem Sonderpreis ausgezeichnet.
Im neuen Atelier von Van Cleef & Arpels in Sainte-Croix sollen nun weitere aussergewöhnliche Objekte für die eigene Kollektion entstehen.
Mehr als nur Mechanik
“Unsere Werke sind schon sehr aussergewöhnlich. Es geht aber nicht nur um Mechanik. Das Aussergewöhnliche daran ist, dass auf rätselhafte Art ein Zauber, eine Performance entsteht”, erklärt Junod.
Auf die Frage, ob seine Automaten lebendig seien, antwortet er: “Selbstverständlich – sie leben und erzählen uns ihre Geschichte!” Die Kunden kommen meist mit einem bestimmten Drehbuch im Kopf. Nur kann man in dieser Branche nicht einfach Schauspieler:innen engagieren – man muss sie erst selbst konstruieren.
Sainte-Croix hat sich intensiv bemüht, seinen Ruf als Automatendorf zu bewahren. «Der Verein Mec-ArtExterner Link wurde gegründet, um die Kunstmechanik weiter zu fördern und die Automatenbauer mit ihrem Knowhow zu retten”, erklärt Pierre Fellay, Leiter von Mec-Art.
Sainte-Croix verdankt seinen Ruf der Herstellung von Spieluhren, die heute nur noch von der Firma Reuge hergestellt werden. Im 20. Jahrhundert haben sich die örtlichen Fabriken diversifiziert und Bolex-Kameras, Kandahar-Skibindungen und Hermes-Schreibmaschinen hergestellt. Durch die Globalisierung verlor Sainte-Croix dann aber fast die gesamte mechanische Produktion.
Heute ist aus einem internationalen Fertigungszentrum ein Refugium für die Eingeweihten, für Uhrmacher:innen und für Kunstschaffende geworden, die sich dem seltenen Beruf des Automatenbaus verschrieben haben.
“Eine formelle Berufsbildung gibt es nicht – man lernt wie früher, von einem Meister oder einer Meisterin”, erklärt Pierre Fellay. Mit kantonaler Unterstützung biete Mec-Art jeden Sommer vierwöchige Kurse mit diversen Inhalten für sechs bis acht Teilnehmende an.
“Einige haben eine Uhrmacherwerkstatt noch nie von Nahem gesehen, andere haben schon etwas Erfahrung”, so Fellay. Auch für gestandene Berufsleute besteht ein Angebot, das aus einem Jahreskurs mit jeweils einer Kurswoche pro Monat besteht.
Die Ausstellung “Mechanical Marvels” in Genf läuft bis zum 17. November 2024. Sie präsentiert Automaten, die von Mec-Art in Zusammenarbeit mit Studierenden der Kantonalen Hochschule für Kunst und Design in Lausanne (ECAL) gebaut wurden.
“Mit der Ausstellung möchten wir die Grundlagen präsentieren, quasi das ABC der Automaten in Menschengestalt”, erläutert Pierre Fellay, Leiter des Vereins Mec-Art.
“Wir zeigen Automaten, die mit dem Publikum interagieren. Man darf sie aufziehen und anfassen, was bei Museumsobjekten ja nicht geht.”
Der Automatenbau gehört seit 2020 zum Unesco-Weltkulturerbe. “Mechanical Marvels” bietet die seltene Gelegenheit, mit dieser Kunst und diesem Beruf buchstäblich in Berührung zu kommen und sich von der Magie der Mechanik verzaubern zu lassen, die in Sainte-Croix weiterlebt.
Editiert von Olivier Pauchard, Übertragung aus dem Französischen: Lorenz Mohler
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