Basel-Stadt: Schweizer Hochburg der Einsamkeit
![Basel Einsamkeit](https://www.swissinfo.ch/content/wp-content/uploads/sites/13/2025/01/csm_228953_05f5c99d9c.jpg?ver=fac2edc5)
In Basel-Stadt sind 47% der Wohnungen Einpersonenhaushalte, im Schweizer Mittel sind es 36%. Ein Viertel der Bevölkerung lebt allein. Die Behörden haben eine Strategie zur Aufklärung und Bekämpfung von Einsamkeit lanciert. Reportage der "Schweizer Revue".
Die Wohnung der 82-jährigen Esther Janine Zehntner ist an diesem Herbstmorgen vom Licht durchflutet. Die Aussicht auf Basel von ihrer Vierzimmerwohnung im sechsten Stock eines Gebäudes am Rande des Iselin-Quartiers ist herrlich.
«Ich lebe gut. Ich habe immer allein gelebt, ohne dass ich unbedingt danach gesucht hätte», erzählt die ehemalige Lehrerin. Sie hat fast zehn Jahre ihres Lebens für den Weltbund der Christlichen Vereine Junger Frauen (YWCA) in Afrika verbracht. «Ich habe ein schwarzes Herz», sagt sie und erzählt von ihrem Einsatz für die Entwicklungszusammenarbeit auf diesem Kontinent.
In Basel ist Esther jeden Tag zu Fuss unterwegs, um in Form zu bleiben. Sie spaziert gerne am Rhein entlang und durch den Basler Zoo. Sie kann auf einen Freundeskreis zählen, mit dem sie ins Theater, ins Konzert oder ins Museum geht. Leidet sie manchmal unter Einsamkeit, wie dies bei immer mehr Menschen in der Schweiz der Fall ist?
Viele leben in Einsamkeit
Die Bevölkerung wird immer älter, die Zahl der Scheidungen nimmt zu. Im Kanton Basel-Stadt lebt rund ein Viertel der Bevölkerung – 50’000 Personen – allein. 47% der Wohnungen sind Einpersonenhaushalte; 53% der Wohnungen, in denen rund 150’000 Menschen leben, werden also von zwei oder mehr Personen bewohnt.
Esther erzählt von einer Woche, die sie mit Freundinnen aus dem YWCA verbracht hat. Alle Teilnehmerinnen zeigten Fotos von ihren Enkeln und Urenkeln. «Ich selbst habe keine. Habe ich mein Leben verpasst? Wie auch immer, wenn es einen Moment gibt, in dem ich mich einsam fühlen kann, ist es so einer», sagt sie.
Gleichzeitig freut sie sich über den Lärm der drei Kinder, die sich gerade über ihrer Wohnung austoben. Im Erdgeschoss ihres Wohnhauses befindet sich das Restaurant Huefyse-Bar, ein beliebter Treffpunkt für Singles aus dem Quartier. Männer und Frauen trinken hier ihr Bier, ab und zu gehen einige auf die Terrasse, um eine zu rauchen.
![Esther Jeanine Zehntner in ihrer Basler Wohnung. Immer lebte sie alleine. Und heute sagt sie ohne zu zögern: «Ich lebe gut.»](https://www.swissinfo.ch/content/wp-content/uploads/sites/13/2025/01/csm_228954_501caba076.jpg?ver=7d07342f)
Nebenan im Ahornträff nutzt einer der Stammgäste einen Bistrotisch zum Arbeiten. Esther isst manchmal mit ihm zusammen. Die sozial engagierte Frau wohnt seit sechs Jahren hier, nachdem sie den grössten Teil ihres Lebens im Iselin-Quartier verbracht hat, in einem Haus, das ihr Grossvater 1902 baute. Sie pflegt nach wie vor Kontakt zu ihren ehemaligen Nachbarn.
Behörden sind alarmiert
In Basel-Stadt ist der Anteil der Single-Haushalte von 21% im Jahr 1960 auf rund 45% im Jahr 1990 gestiegen. Bis 2050 wird er voraussichtlich auf über 50% klettern. «Soziale Isolation kann man messen, aber Einsamkeit lässt sich nur schwer quantifizieren», gibt Lukas Ott, Leiter der Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung Basel-Stadt, zu bedenken.
Ott ist für die Umsetzung eines Programms verantwortlich, das auf ein Postulat zurückgeht. Der SP-Politiker Pascal Pfister hat es 2023 im Parlament eingereicht. Der Massnahmenplan sieht 150’000 Franken für Projekte vor, die ab 2025 von Freiwilligen getragen werden sollen, sowie eine Strategie zur Bekämpfung der Einsamkeit.
«Die Stadt muss neue Möglichkeiten des Zusammenseins schaffen», betont Ott auch mit Blick auf die hohe Zahl von Senioren, Spitälern und Pflegeheimen im Stadtkanton.
2023 hat der Kanton Basel-Stadt allen allein lebenden älteren Menschen einen Brief geschickt. Darin sind zwei Telefonnummern aufgeführt: eine für die Anlaufstelle «Info älter werden», die Informationen zu Angeboten und Organisationen für Seniorinnen und Senioren vermittelt, eine für «Mein Ohr für dich», ein Alltagstelefon für einsame Menschen.
Isolation ist ein Tabuthema
Einsamkeit trifft nicht nur Senioren. In Basel-Stadt leben in einem Drittel der Single-Haushalte Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Lukas Ott sagt, dass junge Menschen in einer mobileren Welt, in der sich das Leben zum Teil online abspielt, zwar mehr Beziehungen knüpften als früher. Diese seien aber fragiler, sagt Ott und betont, dass «die Qualität und Tiefe einer Beziehung entscheidend ist».
![Leben viele alleine, werden Begegnungen draussen im öffentlichen Raum wichtig, wie hier im belebten Kulturzentrum Kaserne Basel.](https://www.swissinfo.ch/content/wp-content/uploads/sites/13/2025/01/csm_228955_158a2cc830.jpg?ver=cbfdaf2a)
Soziale Isolation ist ein Tabuthema. «Bei Seniorinnen und Senioren ist dieses Phänomen bekannt. Doch wenn Junge sagen, dass sie sich einsam fühlen, wird das weniger gut akzeptiert», ergänzt der Abteilungsleiter.
Babyboomer schämen sich
Gottfried* erzählt am Telefon. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern lebt seit etwa zehn Jahren von seiner Frau getrennt. Der 60-Jährige kommt aus dem Kulturbereich und musste sich nach der Zeit von Covid-19, in der viele Selbstständige ihre Jobs verloren, neu erfinden. Er spricht offen über seine Einsamkeit und sein Umfeld, in dem viele Freunde und Bekannte geschieden sind.
Die Lebensbedingungen der Babyboomer haben sich verschlechtert, sogar Menschen mit hohem Bildungsstand sind plötzlich auf Sozialhilfe angewiesen. «In meinem Alter ist man nicht gerne Single», sagt Gottfried. Seine Altersgenossen hätten aber zwei auf den ersten Blick sich zuwiderlaufende Wünsche: Einerseits wollten sie nicht allein sein, anderseits aber ihre Unabhängigkeit und ihren hohen Lebensstandard bewahren.
Viele sind auf Tinder
«So bleibt jeder an seinem einsamen Ort. Die Leute meinen, dass das Leben für immer weitergeht.» Gottfried ist ein Genussmensch, und er findet, dass die Beziehungen zwischen Männern und Frauen schwieriger geworden sind. «Ich traue mich nicht mehr, eine mir unbekannte Frau anzusprechen oder sie auch nur schon richtig anzuschauen», sagt er.
Es gibt nicht viele Möglichkeiten für 60-Jährige, sich zu treffen, wobei Tinder mittlerweile einen Teil davon abdeckt. Gottfried kennt «viele Frauen, die ein Profil auf dieser Plattform haben. Im wirklichen Leben würde ich aber nie mit ihnen über das Tabuthema Einsamkeit sprechen», sagt er.
Alles in allem findet er, dass sich sein Leben ohne Partnerschaft verschlechtert hat. «Zu zweit konnten wir Probleme miteinander teilen und besprechen.» So träumt er von einer neuen Liebesbeziehung in einer Lebensphase, in der der Körper schwächer wird und die Eltern sterben.
Alleinstehende Frauen zuerst
In Basel leben rund 75% der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger allein oder in einer Institution, wie das Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt mitteilt. Die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt zu, auch bei den Jüngeren.
In Basel-Stadt verlässt zudem ein Teil der Familien mit Kindern die Stadt, um in eine ruhigere Umgebung zu ziehen. «Der Kanton fördert Infrastrukturen und Angebote, die auf dieses Publikum zugeschnitten sind», sagt Melanie Imhof, Sprecherin des Präsidialdepartements.
Professor Luca Pattaroni vom Labor für Stadtsoziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) erklärt: «Viele gut ausgebildete Frauen zögern den Zeitpunkt für ein Leben zu zweit hinaus.» Die Immobilienbranche reagiert auf diese Bedürfnisse, indem sie «CoLiving»-Bereiche wie Einpersonenzimmer in Gebäuden mit Gemeinschaftseinrichtungen schafft.
![Ein stilles Zuhause, eine belebte Umgebung: Geräuschvoll und in Bewegung ist selbst der Tinguely-Brunnen auf dem Theaterplatz in Basel.](https://www.swissinfo.ch/content/wp-content/uploads/sites/13/2025/01/csm_228952_ff2169534e.jpg?ver=3fa3ceb8)
Thomas Pfluger ist Leiter von «connect!», einem nationalen Programm zur Bekämpfung der Einsamkeit. Er sagt: «Wenn in der Stadt voneinander getrennte Wohnungen ohne Räume für Begegnungen gebaut werden, schränkt dies die Kontaktmöglichkeiten noch weiter ein.»
Luca Pattaroni nennt das Beispiel der Genossenschaften, die Gemeinschaftsräume in ihren Gebäuden schaffen, sowie Orte des Zusammenlebens wie die sogenannten Cluster. Das sind Wohnungen, in denen ausgestattete Studios um Gemeinschaftsräume herum gruppiert werden.
«Einsamkeit kann in die Depression führen. Sie steht im Fokus unserer Sorge um die psychische Gesundheit», ergänzt der Professor der EPFL. Ist Basel die Schweizer Hauptstadt der Einsamkeit? «Die Baslerinnen und Basler bezeichnen sich selbst als ein Volk der Tradition und der Begegnung», sagt Thomas Pfluger und verweist auf den Erfolg der Fasnacht und der Herbstmesse.
*Vorname der Redaktion bekannt
Diese Reportage erschien zuerst in der Schweizer RevueExterner Link.
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