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Crack – jetzt überall in der Schweiz zu finden

Seit zwei Jahren befindet sich die Stadt Chur in einer Notsituation. Die Gemeinde mit 36'000 Einwohner:innen hat gemessen an der Bevölkerungszahl eine der grössten offenen Szenen der Schweiz.
Seit zwei Jahren befindet sich die Stadt Chur in einer Notsituation. Die Gemeinde mit 36'000 Einwohner:innen hat gemessen an der Bevölkerungszahl eine der grössten offenen Szenen der Schweiz. Keystone / Gian Ehrenzeller

Seit 2020 hat sich der Crack-Konsum in der Westschweiz verdreifacht und breitet sich im ganzen Land aus. Eine Konsumentin, die seit Jahren diese teuflische und zerstörerische Droge inhaliert, erzählt von ihren Erfahrungen. «Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass ich immer auf der Suche nach Crack bin.»

Heute ist Fabienne, wie wir sie nennen, 35 Jahre alt. Sie ist seit Monaten arbeitslos und verbringt ihre Zeit damit, Geld für Drogen aufzutreiben.

Wenn die Wirkung nach einer halben Stunde nachlässt, will sie sofort eine neue Dosis, und dann noch eine. Ein Teufelskreis, aus dem sie sich heute nur schwer befreien kann.

Wir treffen Fabienne in der neuen Konsumhalle von Lausanne, die im Mai eröffnet wurde, nur einen Steinwurf von der zentralen Place de la Riponne entfernt, dem Haupttreffpunkt der offenen Drogenszene. Gerade Lausanne hat sich laut einer Studie der Universität UNIL in letzter Zeit zur Hauptstadt des Crack-Konsums entwickelt.

Der italienischsprachige Schweizer Radio- und Fernsehsender RSI hatte Zugang zu diesem Ort, wo der Konsum in «Sicherheit» stattfindet, d.h. mit sauberem Material und unter Aufsicht von Pflegefachpersonen und Sozialarbeiterinnen.

«Für uns ist es sehr positiv, einen solchen Raum zu haben. Es ist nicht schön, draussen zu konsumieren, wo auch Kinder sind. Ich glaube sogar, dass wir mehr solcher Räume brauchen», sagt eine andere Crack-Konsumentin, 44 Jahre alt, ehemals heroinabhängig, die ihre drei Kinder nicht mehr sieht.

Die Folge des RSI-Programms Falò (auf Italienisch):

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Die zwei Konsumräume in Lausanne

Die von der Stiftung ABS betriebene Konsumhalle ist die zweite ihrer Art in Lausanne. Es handelt sich um ein dreijähriges Pilotprojekt, das jährlich 1,2 Millionen Franken kostet.

Es befindet sich nur 500 Meter vom anderen Zentrum der Stiftung entfernt, das vor mehr als zehn Jahren im Quartier Vallon eröffnet wurde.

Die neue Aussenstelle verfügt über getrennte Räume für die verschiedenen Verabreichungsarten: Injektion, Inhalation und Schnupfen. Es handelt sich also um eine Einrichtung, die bereits für Crack-Konsument:innen konzipiert wurde, deren Zahl ständig zunimmt. Im Durchschnitt gibt es zwischen 140 und 260 Konsumierende. 90% derjenigen, die zum Rauchen kommen, inhalieren Crack.

«Die andere Aussenstelle ist nicht so weit entfernt», erklärt Matthieu Rouèche, Direktor der Stiftung ABS. «Obwohl sie nur 500 Meter Luftlinie entfernt ist, stellt die Entfernung für einige Nutzer:innen ein Hindernis dar.

Vor allem für diejenigen, die es eilig haben, Crack zu konsumieren, ist dieser Raum so konzipiert, dass er so nah wie möglich an dem Ort liegt, an dem sie die Substanz kaufen.

Crack breitet sich auch im Tessin aus

Seit 2020 hat sich der Crack-Konsum in der Westschweiz verdreifacht und breitet sich wie eine Epidemie im ganzen Land aus, auch nach Lugano, wo er im Parco Ciani am sichtbarsten ist. Wir haben uns in diesen Park begeben und mit einigen Konsument:innen gesprochen.

«Wie viel rauchen Sie pro Woche?», fragen wir eine Person, die uns ihre Pfeife zeigt. «Ich rauche montags, mittwochs und freitags und gebe jedes Mal 50 Franken aus.»

Eine Dosis kostet hier 20 Franken. Nach Angaben vieler Betreiber wird im Parco Ciani heute zu über 80 Prozent mit Crack gedealt.

«Wenn man Kokain schnupft, hat man eine gewisse Wirkung», erzählt uns ein anderer Konsument, «aber wenn man es raucht, ist man sofort in Ekstase, man ist ruhig, fühlt sich gut, aber die Wirkung hält nicht lange an, und nach fünf oder zehn Minuten will man mehr. Man wird gewalttätig und ist danach bereit zu stehlen, sich zu prostituieren, um Crack zu kaufen.»

Es ist billig, man findet es leicht, alle sagen, dass es sehr süchtig macht. Und man wird sehr aggressiv, wenn man zu wenig davon hat.

Wir besuchen die Tagesstruktur Ingrado in Viganello, die täglich etwa 40 Drogenabhängige aufnimmt. Etwa 140 Personen werden in den Räumlichkeiten ambulant behandelt. Hier wurden in den ersten acht Monaten des Jahres fast tausend Crack-Pfeifen verteilt. Das sind dreimal so viele wie vor zwei Jahren.

«Ich bin seit zehn Jahren hier und habe eine grosse Veränderung bei den Konsument:innen festgestellt», sagt José Di Stefano, Leiter des Zentrums.

«Früher waren es Opiate, andere Substanzen, die häufiger konsumiert wurden, wie Heroin. Jetzt ist es Crack. Die Konsument:innen sind hyperaktiv, sehr gestresst, aufgeregt. Leider erleben wir Szenen von Aggression und Gewalt, vor allem an öffentlichen Treffpunkten, wo konsumiert wird.»

«Früher habe ich 100 Dosen am Tag verkauft»

Im Therapiezentrum Villa Argentina in Collina d’Oro treffen wir Filippo, so nennen wir ihn, der 2023 wegen Crack im Gefängnis landete. Nun verbüsst er seine Strafe in diesem Therapiezentrum mit dem Ziel der sozialen Wiedereingliederung.

«Ich blieb zu Hause, bereitete Crack zu, verpackte es und ging zum Parco Ciani, um es zu verkaufen. Mit dem, was ich konsumierte, hatte ich nicht genug Geld, also sagte ich mir, lass es uns selber herstellen und verkaufen. Es war einfach, Kund:innen zu finden, ich verdiente viel, ich konnte 1500 bis 2000 Franken pro Tag zusammenkratzen. Ich verkaufte etwa 100 Dosen pro Tag.»

Filippo hat das ganze Geld für Drogen ausgegeben. Heute will er ein neues Leben beginnen und kämpft, um von den Drogen loszukommen.

40 Jahre Konsumräume in der Schweiz

Wie Filippo gibt es in der Schweiz viele, die versuchen, aufzuhören. Das wissen auch die zahlreichen so genannten «niederschwelligen» Anlaufstellen, in denen die «Schadensminderung», eine der vier Säulen der eidgenössischen Suchtpolitik, praktiziert wird.

Dort wird versucht, durch Beratung die Risiken des Drogenkonsums zu begrenzen und in gewissen Fällen sogar einen «sicheren» Konsum zu ermöglichen. Diese Praxis ist in der Schweiz seit 40 Jahren weit verbreitet.

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Der erste Konsumraum wurde 1986 in Bern eröffnet. In den 1990er Jahren folgte Zürich, wo ebenfalls Projekte mit therapeutischem Heroinkonsum lanciert wurden. Heute gibt es insgesamt 15 Konsumräume in acht Kantonen. Weitere stehen kurz vor der Eröffnung.

Nach Heroin ist es nun Crack, das dem Bund Sorgen bereitet. So sehr, dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Frühjahr zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres Städte, Kantone und Fachleute an einen runden Tisch geholt hat, um vor den Gefahren dieser Substanz für die Gesellschaft zu warnen.

«Konsumräume sind notwendig»

Die Direktorin des BAG, Anne Lèvy, erklärt gegenüber RSI, dass die lokalen Behörden dort, wo es Konsumräume gibt, in denen sich die Drogenabhängigen begeben können, wo sie beraten werden und wo sie auch konsumieren können, viel schneller auf das Auftauchen einer gefährlichen Substanz wie Crack reagieren können.

Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt den Städten deshalb, niederschwellige Einrichtungen zu schaffen, die rund um die Uhr geöffnet sind und auch über einen Raum verfügen, in dem Drogen sicher konsumiert werden können. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Chur, die sich seit zwei Jahren im Ausnahmezustand befindet.

Die 36’000-Einwohner-Gemeinde hat anteilsmässig eine der grössten offenen Szenen der Schweiz, die Kriminalität ist wegen des zunehmenden Drogenkonsums innerhalb eines Jahres um 23% gestiegen. Deshalb hat die Bevölkerung im Juni einem Kredit von 3,88 Millionen Franken für den Bau einer Konsumhalle zugestimmt.

Freiburg will der Verbreitung von Crack zuvorkommen

Im August wurde in Freiburg der letzte Konsumraum eröffnet. Er wird von der Stiftung Le Tremplin im Quartier Pérolles betrieben. Nach jahrelangen Diskussionen im Kanton mit seinen rund 350’000 Einwohner:innen hat sich der Freiburger Staatsrat für die Schaffung einer solchen Anlaufstelle ausgesprochen.

«In unserem Kanton gibt es derzeit keinen Crack-Notstand», erklärt Nicolas Dietrich, Delegierter für Suchtfragen des Kantons Freiburg, gegenüber RSI, «aber mit diesem Raum wollen wir der Zeit voraus sein. Es ist eine Lösung, wenn wir ein Problem mit dem Konsum dieser neuen Substanz im öffentlichen Raum haben. Aber ganz allgemein haben wir mit einem solchen Raum mehrere Vorteile, nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Gesundheit der Konsument:innen.»

Sterile Konsumutensilien und die Überwachung durch Experten würden zum Beispiel weniger übertragbare Krankheiten bedeuten. Für sie sei es ein anerkannter und sicherer Ort, der ihre Lebensqualität verbessere.

In den ersten Tagen sind bereits 62 Anmeldungen eingegangen. Im Kanton sind schätzungsweise 1’500 Personen von illegalen Substanzen abhängig. Die Gesamtkosten der Sucht im Kanton belaufen sich auf rund 322 Millionen pro Jahr.

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