Das Auslandschweizer-Home: Mit dem Verkauf endet eine verblüffende Geschichte
Wo die Heimat greifbar wurde: Über Jahre fanden Auslandschweizer:innen im kleinen Dorf Dürrenäsch im Aargau mit dem Auslandschweizer-Home einen Ort, der sie mit ihren Wurzeln verband. Isidor Keller blickt zurück auf diese Zeit in seinem Dorf.
Dürrenäsch im Kanton Aargau hat es vermutlich noch nie in eine Werbung von Schweiz Tourismus geschafft. Und doch war das Dorf mehr als zwanzig Jahre lang eine begehrte Feriendestination – für Auslandschweizer:innen. Hier hat der Industrielle Herbert Bertschy-Ringier 1956 eine einzigartige Ferienkolonie geschaffen, die Schweizer:innen aus der ganzen Welt angezogen hat: das Auslandschweizer-Home.
Zu den besten Zeiten reisten die Gäste mit dem Postauto oder mit dem Auto in die Gemeinde auf dem Hügel zwischen Hallwilersee und dem Wynental. Die meisten kamen aus den Schweizer Nachbarländern, doch auch von weit her; Singapur, Kolumbien, Australien.
Aufgewachsen im «Home»
Isidor Keller kann sich noch gut an das Kommen und Gehen erinnern. Das Haus seiner Familie, in dem er 1957 geboren wurde und heute noch lebt, liegt nur wenige Meter neben dem «Home», wie er es nennt. Seine Mutter war drüben angestellt, kochte und wusch für die Feriengäste.
Das «Home» wurde dadurch zu Isidor Kellers Kinderstube. «Etwas Besseres gab es nicht», sagt er rückblickend. Andere Kinder zum Spielen, immer etwas Gutes zu essen sowie einen Töggelikasten. Keller ist heute passionierter Lokalhistoriker und das Auslandschweizer-Home liegt ihm besonders am Herzen.
Gründer Herbert Bertschy-Ringier, Jahrgang 1901, war selbst nie Auslandschweizer. Seine Kindheit verbrachte er in Dürrenäsch, doch in seinen Zwanzigern hat er im Auftrag seines Vaters die ganze Welt bereist. Das Familienunternehmen, eine Seidenfabrik, betrieb Filialen von England bis Neuseeland.
In der Ferne fand Bertschy immer auch Vertrautes: Er hatte «regen Kontakt mit Landsleuten in aller Welt», hält die Chronik des Auslandschweizer-Homes fest, und «war begeistert von der freundschaftlichen Aufnahme durch die Auslandschweizer in den Kolonien und beeindruckt von ihrer starken Bindung an die Heimat trotz der grossen Entfernung».
Bertschy heiratete Rita Ringier aus Zofingen, die der gleichnamigen Schweizer Verlegerdynastie entstammte. Zusammen entschieden sie, in Dürrenäsch den Auslandschweizer:innen eine Heimstätte einzurichten.
Das «Home» umfasste eine Reihe von Gebäuden, von einer Zentrale im ehemaligen Fabrikgebäude mit Speisesaal, über zwei Villen bis zu mehreren Wohnhäusern.
Und noch mehr: Auch ein Gewächshaus, ein Waschhaus gehörten dazu, sowie ein Bauernhof und eine Bäckerei, welche das «Home» versorgten. Für die Übernachtungen gab es verschiedene Optionen – vom Massenschlag bis zum Einzelzimmer.
Ferien in der alten Heimat
Das Auslandschweizer-Home war «kein Hotel», steht im Eröffnungsschreiben von 1956. Sondern eine Ferienkolonie mit dem Ziel, die Beziehung der Gäste zur alten Heimat wie zu anderen Auslandschweizer:innen zu stärken. Es sollte für diese eine Art Elternhaus sein, wo man sich wohlfühlt, aber auch mit anpackt.
Der «Geist der Solidarität» war wichtig, er wurde auch durch die gemeinsame Arbeit gestärkt. Von den Gästen wurde erwartet, dass sie helfend zum Selbstversorgungsbetrieb beitragen.
Das Gründerpaar wollte eine Kolonie für alle Auslandschweizer:innen, ungeachtet ihres Portemonnaies. Isidor Keller hat in seinem Büro noch die Preisliste.
Wer nicht mitarbeiten wollte oder konnte, musste sich freikaufen. Im ersten Jahr kostete eine Nacht ohne Mitarbeit 10 Franken, mit Arbeit die Hälfte. Zu tun gab es genug: In einem Video des Schweizer Fernsehens aus den 60er-Jahren entstielt eine Gruppe Frauen einen grossen Haufen Johannisbeeren.
Isidor Keller zeigt Fotos, auf denen Männer auf dem “Bampfhof”, dem Bauernhof des «Homes», die Sägisse schwingen oder Holz hacken. Auf den nächsten Bildern sieht man den Bauern, wie er mit einer Schnapsflasche in der Menge rumgeht und die Gläschen der zufrieden dreinblickenden Gäste auffüllt.
Das letzte Kapitel des Auslandschweizer-Homes
Isidor Keller konnte aus dem Nachlass des Auslandschweizer-Homes einen grossen Fundus an Bildern, Filmaufnahmen und anderen Memorabilia übernehmen. So viel, dass er noch gar nicht alles betrachten und auswerten konnte.
Die Erben von Herbert und Rita Bertschy-Ringier wollen aktuell alle Häuser bis auf eines verkaufen. Obwohl die Ferienkolonie bereits 1979 ihre Türe schloss, hängen die grünen Schilder mit der Aufschrift «Auslandschweizer-Home» noch heute vor den Gebäuden in Dürrenäsch.
Mit dem Verkauf wird das Stück Auslandschweizer-Geschichte definitiv verschwinden.
Doch in Kellers Büro, das zum Archiv geworden ist, wird sie wieder lebendig. Er hat bereits hunderte von Bildern digitalisiert und hält in Dürrenäsch und der Region Vorträge.
Lesen Sie hier unseren Artikel, in dem drei Auslandschweizer von ihren Ferien im «Home» erzählen:
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Die einzige Verbindung zur Heimat
Fernsehabende waren ein fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms im «Home» und der Filmprojektor steht mit einer Kiste voller 16mm-Filmrollen in seinem Büro.
Tagsüber verbrachten die Auslandschweizer:innen viel Zeit draussen, entspannten sich im Liegestuhl, spielten Tennis oder Boccia. Tennis hat es Isidor Keller nie angetan, aber unter Anleitung der Gäste aus Frankreich und Italien wurde er – nach eigenen Angaben – zu einem exzellenten Boccia-Spieler.
Die Bocciabahn ist mittlerweile überwachsen, nur ein paar lange Holzlatten am Boden zeugen noch davon, dass hier Nachmittage lang um Millimeter gefeilscht wurde.
Der hohe Gitterzaun um den Tennisplatz steht noch, verrostet und überflüssig, der Platz selbst ist längst wieder eine Wiese. In den meisten Gebäuden des Auslandschweizer-Homes leben heute Mieter:innen.
Am ehemaligen Waschhaus sind noch die Umrisse zu erkennen, wo einst das Gewächshaus angebaut war. In einer Ecke steht hinter neuerem Gerümpel eine uralte runde Wäscheschleuder aus Metall.
Aus dem «Home» gerettet
Um die Feriengäste fürs Essen ins Hauptgebäude zu locken, wurde ein Gong geschlagen. «Diesen Ton hat man im halben Dorf gehört», sagt Keller. Natürlich hat er den Gong in seine Sammlung gerettet. Ebenso wie den kleineren Gong, der im Innern des Hauses ertönte.
Doch das «Home» war nicht nur Ferienlager-Charme und gemeinsames Anpacken auf dem Feld. Die Familie Bertschy-Ringier arbeitete mit diversen Institutionen für die Finanzierung des «Homes» zusammen.
Auch die Selektion für Arbeitskraft und Auswanderung des damaligen Bundesamts für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) und das Auslandschweizerwerk der Neuen Helvetischen Gesellschaft waren am «Home» interessiert.
Repräsentation war eine der Aufgaben der Gründerfamilie, und so empfingen sie in Dürrenäsch Entscheidungs- und Würdenträger, die an weissgedeckten Tischen mit mehrgängigen Menus verpflegt wurden.
Auf den Schwarzweiss-Fotos sieht man, wie Männer in Anzügen über die Felder des “Bampfhofs” marschieren. «Die ‹Gschläckete›, sagten wir damals», sagt Keller.
Herbert Bertschy-Ringier, der Patron, reiste jeweils mit seiner schwarzen Chrysler-Limousine nach Dürrenäsch. Am Steuer sass ein Chauffeur, ein Bild zeigt ihn wartend neben dem glänzenden Wagen.
Auf dem Kopf trägt er eine Chauffeurmütze, schwarz, bestickt mit grossen goldgelben Lettern: «Auslandschweizer ‹Home'». Der Hut ist in einem hervorragenden Zustand und wird sorgfältig in einer Kartonschachtel in Isidor Kellers Büro aufbewahrt.
So auffällig wie diese Mütze, so unsichtbar war Herbert Bertschy-Ringier in Dürrenäsch für viele. Im Gegensatz zu seiner Frau habe er sich nur äusserst selten unter die Gäste gemischt, erzählt Keller.
Bertschy-Ringier bleibt als stiller Wohltäter in Erinnerung, der zwar Zeit in Dürrenäsch verbringt, jedoch eher für Empfänge oder um in seinem Büro zu arbeiten.
Rita Bertschy-Ringier dagegen ist auf vielen Bildern zu sehen, im Gespräch mit Gästen oder wie sie dem Personal aushilft.
Das Dorf im Dorf
1960 hatte Dürrenäsch 899 Einwohner:innen. Zur Hauptsaison um den 1. August wohnten bis zu 300 Feriengäste, die Auslandschweizer:innen im Dorf, erzählt Keller.
Nicht alle Dorfbewohner:innen waren so vertraut mit dem «Home» wie er. Doch die Dürrenäscher:innen wurden eingesetzt, um die Ausgewanderten an ihre Schweizer Wurzeln zu erinnern.
Zur Freude der Gäste wurden die Schulkinder eingeladen, um Geschichten und Versli vorzutragen – auch Isidor Keller gehörte dazu. Diese Auftritte behagten ihm allerdings nicht. Lieber denkt er an die Partys, die im «Home» gefeiert wurden. Die besten Feste seien das gewesen.
Das «Home» verfügte über einen eigenen Festsaal, das «Locanda», in dem «in typischer Tessiner Atmosphäre» gefeiert wurde, wie die Chronik schreibt.
Zum 1. August, an Neujahr und bestimmt auch an diversen anderen Abenden wurde hier ausschweifend gefeiert, auch der Samichlaus kam vorbei. Die Bilder in Kellers Album zeigen gelöste Menschen beim Tanzen, lachende Gesichter zuhauf und etliche Schnapsgläser.
Als Isidor Keller der Feuerwehr beitrat, war die Bar des Auslandschweizer-Homes auch ein beliebter Ort, um nach einer Übung den Abend ausklingen zu lassen, wenn das Restaurant im Dorf schloss.
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Die Gäste blieben aus
Damit das «Home», welches das ganze Jahr geöffnet war, rentierte, wurde es auch an andere Gruppen vermietet. Es fanden Tagungen statt, junge Lehrpersonen aus aller Welt gastierten hier und regelmässig waren Studierende und Kinder aus dem Vereinigten Königreich und dem Commonwealth zu Gast.
Herbert Bertschy-Ringier war ein grosser Bewunderer Grossbritanniens und hatte in Dürrenäsch das «The Swiss British Centre» für den kulturellen Austausch gegründet.
Doch gegen Ende der 70er-Jahre nahm die Belegung im Auslandschweizer-Home ab, auch im Sommer war es nicht mehr voll. Das Reisen war einfacher und erschwinglicher geworden, die Auslandschweizer:innen hatten andere Wunschdestinationen oder keinen Bedarf mehr an erholsamen Ferien auf dem Land, wird in der Chronik spekuliert.
Die Gründerfamilie versuchte, das «Home» dem Militär schmackhaft zu machen, machte intensiv Werbung bei Familien – doch vergebens, das Leben kehrte nicht mehr zurück.
1979 verstarb Herbert Bertschy, wenige Monate später erhielt Isidor Kellers Mutter einen Brief. Die kommende Sommersaison werde die letzte sein.
Das unterzeichnende «Haus-Comité» hält fest, dass das Home stets eine private Intuition gewesen sei und keine öffentlichen Gelder erhalten habe. Noch vor Jahresende stirbt auch Rita Bertschy.
Mit der Schliessung des Auslandschweizer-Homes wurde Dürrenäsch wieder zu einem normalen Dorf im südlichen Aargau. Die Bewohner:innen, die im Home tätig waren, arrangierten sich.
Die Freundschaften, die Kellers Mutter im Verlauf der Jahre mit Gästen geschlossen hatte, wurden zu Brieffreundschaften. Der letzte 1.-August-Ausflug des «Homes» führte zum Rheinfall.
Editiert von Balz Rigendinger
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