Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Die industrielle Landwirtschaft ist mehrfach bankrott»

Hans Herren auf seiner Farm.
Hans Herren auf seiner Farm. @vitisovisfarm


«Die Abhängigkeiten im weltweiten Ernährungssystem sind fatal», sagt Hans R. Herren. Der mehrfach ausgezeichnete Schweizer Agrarforscher über seinen lebenslangen Kampf gegen die Agrarindustrie.

In der Nähe von Sacramento, Kalifornien, ist es sechs Uhr früh. Hans R. Herren erzählt im Videocall von seiner Bio-FarmExterner Link. Umgeben von Sequoia- und Eichen-Bäumen baut er dort Reben und Früchte an, hält 150 Enten. «Hier setze ich um, was ich predige», sagt er, «und ich sehe: Es geht.»

Herren hat sich durch sein Engagement für eine neue Landwirtschaft weltweit einen Namen gemacht. Sein Ansatz ist: weg vom konventionellen und industriellen Anbau mit Monokulturen, hin zur sogenannten Agrarökologie. Herren versteht darunter «ein vom Feld bis zum Teller nachhaltiges und faires Ernährungssystem». Er propagiert Bio-Landwirtschaft ohne künstlichen Dünger oder Pestizide.

Kleinbauer Hans Herren mit seinen Bio-Trauben.
«Es funktioniert»: Kleinbauer Hans Herren mit seinen Bio-Trauben. @vitisovisfarm

Der Schweizer Insektenforscher ist ein Pionier biologischer Methoden. Er ist auch Träger des Welternährungspreises. Diesen erhielt er 1995, nachdem er eine Schmierlaus, die den Maniok-Anbau in Afrika beinah verunmöglichte, erfolgreich bekämpft hatte.

Herren hatte in Paraguay eine Schlupfwespe gefunden und diese grossflächig über Afrika verbreitet. Sie hielt den Maniokschädling darauf nachhaltig in Schach. Gemäss Berechnungen hat er so rund 20 Millionen Menschen vor einer Hungersnot bewahrt.

SWI swissinfo.ch: Wie blicken Sie zurück auf diese Zeit?

Hans Herren: Es war für mich eine Lektion.

SWI: Was haben Sie gelernt?

HH: Auch die Wirkung guter Wissenschaft hat Grenzen, wenn sie die Politik nicht einbezieht. Ich verbrachte damals sehr viel Zeit mit Politikern, um die Erlaubnis zu erhalten, meine Schlupfwespen loszulassen.

SWI: So viel Skepsis?

HH: Eher Druck der chemischen Industrie. Auf der anderen Seite gab es Leute, die unbedingt Pestizide verkaufen wollten, um die Schmierlaus zu bekämpfen. Ich wehrte mich und erhielt von der Chemie auch Todesdrohungen.

Darum suche ich die Veränderung noch heute über die Politik. Denn es muss diese Transformation geben, es geht gar nicht anders – und sie muss auch von oben kommen.

SWI: Welche Transformation?

HH: Die Verwandlung des globalen Ernährungssystems. Es braucht Agrarökologie. So steht es bereits im UNO-Weltagrarbericht von 2008, den ich co-präsidiert habe. Wir haben in diesen Bericht eine biodiverse, lokalisierte und gerechte Landwirtschaft gefordert.

SWI: Bitte klären sie uns auf.

HH: Die industrielle Landwirtschaft ist bei genauer Betrachtung bankrott. Sie kann ohne Subventionen nicht funktionieren. Sie ist direkt und indirekt staatlich unterstützt. Der Bankrott betrifft auch die Produkte: Sie sind zwar kalorienreich, aber ernährungsarm. Sie haben wenig Vitamine und Mineralien. Meist enthalten sie auch Rückstände von Pestiziden und Herbiziden.

Hans Herren.
Biovision

Hans R. Herren ist Präsident des Millennium InstituteExterner Link, Gründer der Schweizer Stiftung BiovisionExterner Link, Preisträger des Welternährungspreises und des alternativen Nobelpreises «Right Livelihood Award». Er lebte über 27 Jahre in Afrika und forschte dort zu den Themen Landwirtschaft, Gesundheit und Umwelt. Herren erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Arbeiten und sein Engagement. Mit der Familie seiner Tochter bewirtschaftet er heute in Kalifornien eine Bio-Farm.

SWI: Sehen Sie das nicht etwas düster?

HH: Nein, denn es gibt auch noch die Klimaschäden. Diese Art von Landwirtschaft setzt sehr viel CO₂ frei, weil sie den Boden so stark bearbeitet. Und dann die grössten Kosten: Die Gesundheitskosten, die wir der industriellen Landwirtschaft zuschreiben können. Diabetes, Übergewicht und Krebs.

Vielerorts essen wir uns krank. Es gibt Ärztinnen und Ärzte, die Patienten je nach Erkrankung statt in die Apotheke auf den Biomarkt schicken. So können sie sich gesund essen.

SWI: Gesunde Ernährung und Bio-Produkte sind aber teuer. Viele können sich das nicht leisten.    

HH: Das ist ein Trugschluss. Die industrielle Landwirtschaft produziert nur vordergründig billig, in Wahrheit produziert sie sehr teuer, vor allem für die Staaten, denn bei ihnen fallen die Gesundheitskosten an.

Darum müssen wir schauen, dass der Preis der Produkte aus der konventionellen Landwirtschaft alles enthält: Umweltschäden wie Wasserverschmutzung, CO₂-Ausstoss und vor allem die Pestizidrückstände.

Für die Landwirtschaft abgeholzte Waldflächen im brasilianischen Bundesstaat Para.
Für die Landwirtschaft abgeholzte Waldflächen im brasilianischen Bundesstaat Para. ap

SWI: Das würde Lebensmittel verteuern. Wie stellen Sie sich das vor?

HH: Es muss von den Regierungen kommen. Wenn bei den Konsument:innen die Ernährungspreise steigen, gibt es tatsächlich Krawalle. Darum muss der Staat bei den Subventionen eingreifen.

Die konventionell produzierenden Bauern müssten um ihre Subventionen nicht einmal Angst haben. Sie hätten alle Unterstützung – aber für andere Anbaumethoden: ohne Monokulturen und Chemie.

Man kann auch die positiven Kosten einberechnen. Bei den Bioprodukten kann man sagen, sie leisten einen Beitrag zur Biodiversität.

SWI: Ist das nicht utopisch?

HH: Interessant ist, dass unser Ansatz vor allem in Afrika gut ankommt. Mit dem Millennium Institute, das ich seit 2005 leite, beraten wir Regierungen mit Simulationsmodellen, damit sie zeitlich und effizient die Nachhaltigkeitsziele der UNOExterner Link erreichen. In Afrika haben wir bereits über 20 Länder beraten, darunter Nigeria, Kenia, Senegal und Kamerun.

Und unsere Stiftung Biovision zeigt gerade auf, dass Unternehmen, die in Uganda und Kenia nach den agrarökologischen Prinzipien wirtschaften, erfolgreich sind und sich gleichzeitig positiv auf Umwelt und die Gesellschaft auswirken.

Bäuerin aus Tansania: Bio-Mais ist in Afrika konkurrenzfähig
Bäuerin aus Tansania: Bio-Mais ist in Afrika konkurrenzfähig. Biovision

Wir arbeiten auch mit der Regierung von Deutschland und es gibt inzwischen auch Anfragen von anderen europäischen Staaten. Leider nicht von der Schweiz, dort haben wir einiges vorgeschlagen, aber es ist noch nichts passiert und die meisten Ziele werden wahrscheinlich bis 2030 nicht erreicht.

SWI: Dabei hätte die Schweiz mit ihrem Direktzahlungssystem ein präzises Steuerungsinstrument. Was halten Sie davon?

HH: Richtig angewendet wäre es gut. Doch es braucht noch viel Information, vor allem an die Bauern. Diese haben immer wieder Angst, dass sie etwas verlieren oder dass es nicht geht. Deshalb muss man auch die Forschung so gestalten, dass sie den Bauern hilft.

Vielerorts werden die Bauern zu wenig eingebunden und ihr Wissen interessiert die Forschung zu wenig. Auch das muss sich ändern. Die Forschung sollte die Transformation des Ernährungssystems mit relevanter und guter Wissenschaft unterstützen.           

SWI: Was muss noch erforscht werden?

HH: Vor allem der Boden. Er ist zentral, und wir wissen noch sehr wenig über ihn. Doch die Bodenfruchtbarkeit muss zwingend erhöht werden. Es gibt schon gute Methoden, um mehr organisches Material in den Boden zu bringen, vor allem Gründüngungen. Sie wären übrigens gerade in der Schweiz sehr wichtig, wo während längeren Perioden nichts wächst.

Forschungsdefizite bestehen auch noch bezüglich Unkraut, Krankheiten und biologischer Schädlingskontrolle. So haben Pflanzen zum Beispiel die Fähigkeit, sich gegen Krankheiten und Insekten wehren zu können. Sie können Nützlinge anziehen oder Schädlinge abstossen.

Das sind neue Ansätze, für die heute Technologien da sind. Die müsste man aber besser verstehen. Über Biovision unterstützen wir diese Forschungsarbeit lokal. Bäuerinnen und Bauern in Kenia und Tansania machen dabei aktiv mit. Sie wenden die Methoden an und tauschen ihre Erfahrungen mit den Wissenschaftlerinnen und anderen Bauern aus.

SWI: Der Agrarsektor ist wohl der älteste Wirtschaftszweig überhaupt, und immer noch schlecht erforscht?

HH: Leider ja. Wir verloren in den letzten 30 bis 40 Jahren viel Zeit. Man hat gedacht, jetzt kommt die Biotechnologie, und dass man die Probleme mit Genmanipulationen lösen könne. Das brachte aber nichts, weil man damit einfach das bestehende, auf Pestiziden beruhende System ausbaut, das Resistenzen kreiert.

Es ist ein Hamsterrad: Ein paar Jahre geht es mit den neuen Sorten, dann braucht es neue Pestizide. Das ist zwar wichtig und gut für die Industrie. Man packt das Problem jedoch nicht an der Wurzel, sondern behandelt die Symptome.

SWI: Was wäre der bessere Ansatz?

HH: Wir müssten endlich vorbeugend arbeiten, und nicht erst die Probleme behandeln, wenn sie da sind. Es wäre Zeit, das Geld, das in die Gentechnologie investiert wurde, künftig in Methoden fliessen zu lassen, die dem Erhalt der Biodiversität dienen. Es braucht nicht einfachere Systeme, sondern kompliziertere, die resilient sind.

SWI: Ihr Plan, das Ernährungssystem global zu reformieren, ist gigantisch. Was sind die grössten Hindernisse?

HH: Der Agro-Business und die Globalisierung des Ernährungssystems. Die grossen Agrarmultis, die Düngemittel-Hersteller, die Nahrungsmittelkonzerne haben alle wenig Interesse, dass man die Ernährungssysteme lokalisiert und auf eine natürliche Basis stellt. Sie haben alles zu verlieren.

SWI: Es herrscht Wirtschaftsfreiheit, und die Welt erhält Nahrung. Was ist daran schlecht?

HH: Was der Industrie nützt, schadet oft Bauern und Konsumenten, also dem Menschen. Das Resultat davon erleben wir schon täglich mit Dürren, Fluten und anderen Folgen des Klimawandels. Wenn wir das Ernährungssystems wieder lokaler gestalten, können wir gute Nahrung für alle produzieren, Umweltprobleme lösen sowie Arbeit und Gemeinschaften im ländlichen Raum schaffen.

SWI: Kann man die Welt denn ernähren ohne Dünger und ohne Pestizide?

HH: Längerfristig geht es nur so. Natürlich braucht es Nährstoffe, aber die richtigen. Man muss das Bodenleben aufbauen. Das kann der Bauer oder die Bäuerin selbst mit natürlichen Mitteln machen. Was wichtig ist, ist dass wir gesunde Pflanzen in gesunden Böden wachsen lassen.

Diese sind dann auch resilienter gegenüber Insekten, Krankheiten und Umweltherausforderungen, die mit dem Klimawandel immer stärkeren Druck ausüben. Und für die Fälle, dass vorbeugende Massnahmen nicht reichen, gibt es auch Bioprodukte gegen Insekten und Krankheiten.

Hans Herren
Frühling auf der Biofarm: Hans Herren bestaunt einen jungen Pfirsichbaum. @vitisovisfarm

SWI: Sie fordern damit eine lokalere Produktion. Aber warum sollen nicht grosse Agrarstaaten viele andere Länder ernähren?

HH: Abgesehen davon, dass Monokulturen sehr anfällig sind, wie man gerade bei den Bananen sieht, gibt es ein weiteres Problem bei den Exporteuren. Sie produzieren weniger für die eigenen Leute und zerstören die ganze Landschaft. Was in Brasilien abgeholzt wird, um billiges Fleisch für Amerika und Europa zu produzieren und um riesige Mengen an Soja und Mais zu exportieren, schafft nicht nur in Brasilien ein Problem. Es schadet auch in Europa.

Denn dort hat der Import von Futtermitteln einen sehr negativen Einfluss auf die Böden. Die gefütterten Tiere produzieren zu viel Mist, also zu viel Stickstoffdünger. Die Niederlande haben bereits eine Stickstoffkrise. Der Mist und die Gülle dieser Kühe und Schweine gehört eigentlich zurück nach Brasilien.

Ein Cowboy treibt eine Rinderherde im brasilianischen Bundesstaat Acre
Ein Cowboy treibt eine Rinderherde im brasilianischen Bundesstaat Acre. ap

SWI: Gerade in der Schweiz wird die lokale Produktion hochgehalten. Es ist auch das Standard-Argument der Landwirtschaft. Immer wenn eine Volksinitiative mehr Ökologie fordert, sagt die Bauernlobby, die Selbstversorgung der Schweiz sei in Gefahr. Ein Zielkonflikt?

HH: In der Schweiz ist Selbstversorgung schon lange nicht mehr möglich. Es gibt Länder, die sich mehr oder weniger selbst versorgen könnten, aber in der Schweiz ist das ein Traum. Die Population ist viel zu gross gegenüber dem, was wir produzieren könnten – ausser wir essen nur noch Kartoffeln, aber dann wissen wir, was passiert, wenn eine Krankheit kommt.

Wir Schweizer sollten uns eher überlegen: Was produzieren wir und wie? Und was importieren wir von wo?

SWI: Gibt es ein Land, das für Sie auf dem richtigen Weg ist?

HH: In Tansania hat die Regierung entschieden, mit einer nationalen Strategie die Bedeutung der Agrarökologie deutlich zu verstärken. Da hat Biovision bei der Erarbeitung mitgewirkt. Eine solche Strategie ist ein wichtiges Signal. Dadurch erhalten Bäuerinnen, Bauern und weitere Akteure entlang der agrarökologischen Wertschöpfungskette Unterstützung. Es brauchte dafür viel Zeit, viel Geduld und Geld.

Auch Dänemark ist ein Modell in Sachen Ernährungssystem-Transformation. Man versucht in allen öffentlichen Verpflegungsbetrieben biologische Produkte einzuführen, was zu entsprechender Produktion führt. Es geht also tatsächlich, auch wenn ich oft den Eindruck habe, wir machen drei Schritte vorwärts und zwei zurück.

Editiert von Benjamin von Wyl

Meistgelesen
Swiss Abroad

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft