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Die letzte Hoffnung für die Schweizer Enklave Domaine des Charmerettes in Marseille

alte fassade
Die Bastide des Domaine des Charmerettes hat schon bessere Zeiten gesehen. zVg

Seit der Schliessung des "Foyer helvétique" in Les Charmerettes im Jahr 2012 ist das Schweizer Anwesen mitten in Marseille verwahrlost. Ein neuer Sanierungsplan soll Abhilfe schaffen.

Kaputte Fensterläden, verblasste Wände, abblätternde Farbe, beschädigte Böden: Der Glanz der Bastide Les Charmerettes und ihrer Nebengebäude, die Ende des 18. Jahrhunderts erbaut wurden, gehört endgültig der Vergangenheit an.

Von den Gebäuden, die seit der Schliessung des Altersheims für Schweizer:innen im Jahr 2012 fast vollständig verlassen wurden, wird nur noch das „Grütli“ – eine Art kleines Chalet – von Zeit zu Zeit von Schweizer:innen aus Marseille genutzt. Doch vielleicht könnte ein neues Sanierungsprojekt in den kommenden Monaten den Jahren der Vernachlässigung und der internen Dispute innerhalb der helvetischen Gemeinschaft in Marseille ein Ende setzen.

Die Werte des Orts respektieren

Eigentümerin der Domaine des Charmerettes – einem 3,8 Hektar grossen Park auf dem Land mit seinen Gebäuden, darunter ein Bauernhof, eingebettet im Herzen von Marseille – ist die Fondation Helvetia Massilia (FHM). Sie führt seit mehreren Monaten Gespräche mit dem Verein Label Vie.

«Label Vie wurde vor etwa 15 Jahren in Marseille mit dem Ziel gegründet, Kinderbetreuungseinrichtungen dabei zu helfen, eine nachhaltige Praxis in ihren Alltag zu integrieren», sagt Laura Zimer, Direktorin für Innovation und Partnerschaften bei Label Vie.

Das Projekt würde darin bestehen, in Les Charmerettes ein «Ecolieu», eine Art ökologisches Dorf, zu errichten. Das Landhaus würde eine Kinderkrippe, ein Ausbildungszentrum für Personal im Bereich der Kleinkindbetreuung sowie einen Informations- und Unterstützungsraum beherbergen, der der Öffentlichkeit – hauptsächlich Eltern und Fachkräften aus diesem Bereich – offen steht.

Der Bauernhof, seine Gemüsefelder und der grosse Park des Anwesens würden die Verbindung, die Label Vie mit Umweltthemen herstellen möchte, vervollständigen.

Marseille und die Schweiz sind durch eine lange Tradition miteinander verbunden. Ab dem 16. Jahrhundert hatte sich eine grosse helvetische Gemeinschaft in der Hafenstadt niedergelassen. Die meisten von ihnen waren Handwerker.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Hafen von Marseille stark und die Schweizer:innen, die damals vor der Armut im Land flohen, kamen in Kohorten an.

Die grosse Gemeinschaft zeigte sich solidarisch, es wurden zahlreiche Vereine gegründet, einerseits um die helvetische Identität zu bewahren, andererseits um den guten Ruf der Schweizer Arbeiter:innen, den sie sich im Laufe der Zeit erworben haben und der für die Diaspora Wohlstand bedeutet, aufrechtzuerhalten.

Heute leben rund 5000 Schweizer:innen in Marseille und sind dort beim Konsulat registriert, doch die tatsächliche Zahl wird auf mindestens das Dreifache geschätzt.

In den roten Zahlen

Es gibt jedoch mehrere Herausforderungen, angefangen bei den Finanzen. Die derzeitigen Kosten für die Renovierung werden auf rund drei Millionen Euro (2,85 Millionen Schweizer Franken) geschätzt. Die FHM und Label Vie würden etwa zu gleichen Teilen investieren.

Die Kosten für dringende Wartungsarbeiten, Steuern und andere Versicherungen belasten die Finanzen der Stiftung, die jährlich rund 25’000 Euro (23’700 Schweizer Franken) ausgibt.

Als privatrechtliche Schweizer Stiftung muss sie auch Gebühren an die Eidgenössische Stiftungsaufsicht (ESA) entrichten, die dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) angegliedert ist. Diese belaufen sich auf etwa 6000 bis 7000 Euro pro Jahr (5690-6630 Schweizer Franken).

Die beiden Mieten, die von den Bewohner:innen des Bauernhofs und eines anderen Gebäudes gezahlt werden, sind derzeit die einzigen Einnahmen der Stiftung, die sich auf etwa 3000 Euro pro Jahr (2850 Schweizer Franken) belaufen.

«Es gab einen Notgroschen auf der Bank, der aus historischen Finanzprodukten stammte», sagt Valéry Engelhard, doch dieser sei im Laufe der Jahre geschmolzen und nun «fast aufgebraucht», da es keine weiteren Einnahmen gebe.

Ein Projekt des Zwiespalts

Darüber hinaus waren die Beziehungen zwischen der Stiftung Helvetia Massilia und der Société Suisse de Bienfaisance de Marseille (SSB), der ältesten helvetischen Vereinigung in Marseille, über ein Jahrzehnt lang hitzig. Im Jahr 2020 brachte das letzte Projekt zur Sanierung der Charmerettes endgültig alle Spannungen zum Vorschein.

Dieses sah vor, einen Teil des Grundstücks an eine private Gesellschaft zu verkaufen, um dort ein Wohngebäude zu errichten. Neben Hindernissen aufgrund von Veränderungen im Rathaus von Marseille lehnte die SSB diese Lösung strikt ab und reichte eine Klage gegen die Baugenehmigung ein. Seitdem ist die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der beiden Verbände sehr angespannt.

Für das Gemeinwohl reinen Tisch machen

Die Stiftung Helvetia Massilia und die SSB sind sich jedoch einig, dass die Charmerettes ihren eigentlichen Zweck behalten sollen, nämlich ein Ort für die helvetische Diaspora in Marseille zu sein.

Anfang 2024 ernannte der Verwaltungsrat der SSB eines seiner Mitglieder, Fabienne Hoffmeyer, dazu, den Dialog mit der Stiftung wieder konstruktiver zu gestalten. Denn „die SSB hat in dieser Angelegenheit keine Macht, ausser der Macht der Überzeugung“, sagt sie.

Die Stiftung Helvetia Massilia ist die alleinige Eigentümerin des Anwesens und hat keine Konsultationspflicht gegenüber Dritten, ausser dem EDI. Ihr Präsident Valéry Engelhard meint jedoch: «Es handelt sich nicht um das Projekt der Stiftung, sondern um ein gemeinsames Vorhaben. Ich möchte daher, dass alle Parteien konsultiert werden.»

Einen Ort für die Schweizer:innen in Marseille erhalten

Die Beziehung zwischen der FHM und der SSB hat sich mittlerweile beruhigt. Die beiden Organisationen diskutieren derzeit die Möglichkeit, dass die FHM die Verwaltung des «Grütli» an die FHM abtritt. Nach einer Renovierung könnte dieses kleine, symbolträchtige Gebäude dann wieder in Ruhe von der SSB organisierte Veranstaltungen beherbergen.

«Wir möchten, dass das Grütli wieder zu einem lebendigen Ort wird, der eine Bar oder ein Restaurant beherbergt, dessen Lebensmittel aus dem Gut stammen könnten», sagt Fabienne Hoffmeyer. «Dieser Ort muss verbindend sein», fügt Marie-José Mathieu, Präsidentin der SSB, hinzu und hofft, dass das Projekt, falls es zustande kommt, die Gemeinschaft und indirekt auch die Wohltätigkeit wiederbeleben wird.

In den letzten Monaten hat sich der Verein auf die Suche nach Mäzen:innen gemacht, um die Arbeiten zu finanzieren. Fabienne Hoffmeyer schätzt, dass die Gespräche mit der Stiftung bis Ende des Jahres erfolgreich abgeschlossen werden könnten. «Dann könnten wir eine sechsmonatige Bauzeit ins Auge fassen und im Juni nächsten Jahres ein grosses Fest der Schweizer Familien veranstalten.»

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Konsens scheint gefunden

Valéry Engelhard ist zuversichtlich, dass das Projekt erfolgreich sein wird: Der Stiftungsrat (das Entscheidungsorgan der Stiftung) unterstützt das Projekt, die SBG scheint keine Einwände zu haben, und auf Seiten von Label Vie sind der Wille zur Umsetzung und die Finanzierung gesichert.

Der Schweizer Generalkonsul in Marseille, Christophe Vauthey, hat sich bei seinem Amtsantritt im Frühjahr mit der Angelegenheit befasst. Die Statuten der FHM sehen nämlich vor, dass er die Eidgenossenschaft im Stiftungsrat vertritt und die Rolle des Koordinators zwischen dem Stiftungsrat und der ASF ausübt.

Seit seiner Ankunft in der Hafenstadt hat er mit den verschiedenen Parteien gesprochen, die in der Sache um die Charmerettes verwickelt sind, darunter auch die städtischen Behörden. „Es ist geplant, im Herbst 2024 eine öffentlich zugängliche Informationsveranstaltung zu organisieren, bei der die aktuelle Situation sowie mögliche Wege für die Zukunft diskutiert werden sollen“, schreibt das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zu dem Dossier.

Alle Lichter scheinen also auf Grün, die Stiftung muss jedoch noch das Geld für ihren Anteil an den Investitionen aufbringen.

Es geht gut oder gar nicht

Valéry Engelhard leitet die FHM seit über zehn Jahren. Da er der Streitereien innerhalb der Gemeinschaft und der Suche nach einer Lösung für das Anwesen leid ist, sieht er dieses Projekt als letzte Chance: «Entweder wir finden in den nächsten 12 bis 18 Monaten eine dauerhafte Lösung, oder wir lösen die Stiftung auf und verkaufen das Anwesen. Diese Entscheidung wurde auf einer Vorstandssitzung getroffen.»

Um das Anwesen zu verkaufen, müsste die Stiftung Helvetia Massilia jedoch die Genehmigung der Eidgenössischen Stiftungsaufsicht einholen.

Übertragung aus dem Französischen von Janine Gloor

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