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«Die Schweiz ist ein neutrales (und glückliches) Land»

schweizer fahne mit bergen im hintergrund
«In Umfragen scheint die Schweiz ein glückliches Land zu sein», sagt der Historiker und Professor Maurizio Binaghi. Keystone

Globale Herausforderungen haben das Neutralitätsverständnis der Schweiz auf die Probe gestellt. Der Historiker Maurizio Binaghi zeichnet die Geschichte dieser schweizerischen Besonderheit nach, «die als Tugend der Schwachen angesehen wird, in Wirklichkeit aber ihre Vorteile hat».

«In Umfragen scheint die Schweiz ein glückliches Land zu sein», sagt der Historiker und Professor Maurizio Binaghi und betont, dass das Thema Glück in der Schweizer Geschichte zyklisch auftaucht: «Es ist ein Zeichen für einen anthropologischen Wandel der Schweizer.»

Nicht immer ein friedliches Land

In den ersten Jahrhunderten wurden die Schweizer jedoch hauptsächlich als sehr gewalttätige und fast unbesiegbare Krieger gesehen, die in einer nahezu bestialischen, sehr negativen Form wahrgenommen wurden.

«Mit dem Dreissigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert änderte sich alles», sagt Binaghi. Nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs «beobachtete man vom Ausland aus ein Land, in dem die Wirtschaft weiterlief, in dem die Gesellschaft funktionierte, mit ganz besonderen institutionellen Instrumenten. So entstand im Ausland die Idee eines ‹glücklichen› Landes.»

Unser Dossier zur Schweizer Neutralität:

Der wirtschaftliche Wohlstand und die Gelassenheit sind entscheidend für die Analyse des Glücks und hängen mit unserer Neutralität zusammen. «Die Neutralität, die als Tugend der Schwachen angesehen wird, hat in Wirklichkeit ihre Vorteile», sagt der Historiker. Und: «Sie ist Teil der Identität der Eidgenossenschaft geworden».

Die Schweiz war jedoch nicht immer ein friedliches Land, sondern hat an Kriegen teilgenommen, die zur Festigung des Landes beigetragen haben. «Die Friedfertigkeit ist durch eine bestimmte Erzählung der Geschichte gewachsen», betont Maurizio Binaghi, «eine Erzählung, die davon ausgeht, dass die Schweizer die Mission haben, im Zentrum Europas zu stehen, mit einer sehr eigenen Art, Politik und Geschichte zu verstehen».

Der Unterschied zu den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich zu Beginn der beiden Weltkriege für neutral erklärten, besteht darin, dass die schweizerische Neutralität ab 1815 sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten «dauerhaft» wurde.

Das gesamte Interview mit Maurigio Binaghi (auf Italienisch)

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Eine Politik der Kompromisse

In der Zeit des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) geriet die Schweiz unter starken Druck und die Neutralität war in Gefahr. «Die Neutralität wurde in dieser Zeit aufrechterhalten», sagt Binaghi, aber «die Historiker haben sich lange gefragt, zu welchem Preis und inwieweit man Neutralität als Unparteilichkeit definieren kann».

Die eigene Neutralität müsse legitimiert werden, und das bringe Kompromisse mit sich, «die sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten über die militärische Verteidigung des Territoriums hinaus gemacht werden müssen», so Binaghi. Genau aus diesem Grund «wurden während des Zweiten Weltkriegs viele Kompromisse mit dem internationalen System geschlossen, das in Wirklichkeit nazistisch-faschistisch war», so der Historiker.

Diese Kompromisse gingen wohl auch «über das Notwendige hinaus», und obwohl die Bergier-Kommission (die Kommission unabhängiger Experten, die einen Bericht über die Schweizer Geschichte während des Zweiten Weltkriegs erstellte, Anm. d. Red.) sie als überlebenswichtig erachtete, warfen die Alliierten der Schweiz vor, ihren Handlungsspielraum nicht zu nutzen.

«Angesichts des sich wandelnden internationalen Systems müssen heute Entscheidungen getroffen werden, insbesondere in Bezug auf die Legitimität unseres Landes», das Feld bleibt also sehr offen. In der Tat gibt es Herausforderungen auf der Weltbühne, wie der Krieg in der Ukraine, die die Definition der Neutralität für die Eidgenossenschaft in Frage gestellt haben.

«Der Weg der Schweizer Geschichte» und ihre Neutralität «ist sehr interessant. Es ist die Geschichte einer Nation, die sich als Gemeinschaft versteht», sagt Binaghi und sagt abschliessend: «Nichts ist ewig, es wird interessant sein zu sehen, wie diese Gemeinschaft als solche fortbestehen kann.»

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