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Die Tessinerpalme – ein Opfer ihrer wandelbaren Sexualität

Ansicht eines malerischen Städtchens an einem See
Die Hanfpalme ist oft auf Postkarten aus dem Tessin zu sehen, wie hier in Ascona. WSL / Gottardo Pestalozzi

Sie verleiht der Südschweiz seit Jahrzehnten ein tropisches Flair. Um die Ausbreitung dieser invasiven Pflanze einzudämmen, haben die Behörden den Verkauf von Tessinerpalmen verboten. Die atypische Sexualität der männlichen Pflanzen führte zum Totalverbot.

Die FreisetzungsverordnungExterner Link (FrSV), die der Bundesrat im März dieses Jahres verabschiedet hat, ist am 1. September in Kraft getreten.

Sie verbietet den Verkauf, die Einfuhr und sogar das Verschenken von 31 invasiven gebietsfremden Pflanzen, welche die einheimische Flora und Fauna gefährden.

Das Verbot betrifft Pflanzen, die bisher in Gartencentern sehr beliebt waren, wie zum Beispiel der Schmetterlingsbaum oder der Kirschlorbeer. Aber auch ein echter Star unter den Exoten in der Schweiz ist vom Verbot betroffen: die Tessinerpalme, auch bekannt als Chinesische Hanfpalme.

Eine Meisterin der Invasion

«Sie hat nichts mit dem Tessin zu tun», sagt Antoine Jousson, der eine Masterarbeit über diesen Baum geschrieben hat. In der Sendung CQFD des Westschweizer Radios RTS erinnert der Spezialist daran, dass der Baum eigentlich Hanfpalme heisst und ursprünglich aus China stammt.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf grossen bürgerlichen Anwesen zu finden, hat sich der Baum im Tessin sehr gut akklimatisiert und ist sogar zu einem der Symbole dieses Schweizer Kantons südlich der Alpen geworden.

«Die eigentliche Verbreitung begann Mitte der 1970er-Jahre», sagt Jousson. «Studien haben gezeigt, dass dies mit dem Temperaturanstieg zusammenhängt.»

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Die Hanfpalme kann als Meisterin der Invasion bezeichnet werden. Da ihre Wurzeln nicht viel Platz beanspruchen, kann sie sich leicht im Unterholz ansiedeln.

Mit ihrer Höhe von bis zu 15 Metern überragt sie alle anderen Bäume und verliert im Winter keine Blätter. Das verschafft ihr einen Konkurrenzvorteil gegenüber Laubbäumen.

Auch die Kälte kann ihr nichts anhaben, verträgt sie doch Temperaturen bis zu -18 Grad Celsius.

Palmen in einem winterlichen, blattlosen Wald
Im Winter, wenn die Bäume in den Laubwäldern kahl sind, profitiert die immergrüne Hanfpalme von günstigen Lichtverhältnissen. WSL / Boris Pezzatti

Die Hanfpalme ist eine Bedrohung für andere Pflanzen und einige Tiere, denen sie Nahrung und Lebensraum entzieht. Ausserdem sind die Palmen leicht entflammbar. Das stellt in Zeiten der Klimaerwärmung eine zusätzliche Gefahr dar.

Angesichts all dieser Nachteile ist die Tessinerpalme «eine unbequeme Schönheit», resümiert die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in einem Bericht.

Eine beliebte Pflanze

Im Kanton Tessin scheint der Kampf bereits verloren. Nun geht es darum, die Ausbreitung auf der Alpennordseite zu verhindern, obwohl einige Regionen bereits betroffen sind, besonders die Ufer des Genfer- und des Zürichsees.

Die Palme hat aber nicht nur Feinde. Eine Umfrage vom letzten Jahr ergab, dass fast 60% der Befragten die Palme positiv beurteilen.

Die Pflanze ist beliebt und verkaufte sich daher gut in Gartencentern. Um dieses lukrative Geschäft zu erhalten, schlugen die Palmengärtner vor, das Verkaufsverbot auf weibliche Pflanzen zu beschränken.

Dieser Vorschlag wurde im Rahmen der Vernehmlassung zur Änderung der FrSV diskutiert und auch vom Kanton Zürich unterstützt.

Auf dem Papier schien die Lösung logisch. Da jede weibliche Pflanze bis zu 100’000 Samen pro Jahr in der Natur verbreiten kann, hätte ein Verbot die Vermehrung dieses Baums verhindern können.

Sexualität im Wandel

Doch da hatte man nicht mit der Arbeit von Jousson und anderen Teammitgliedern des Botanischen Gartens in Genf gerechnet. Die Untersuchungen zeigten nämlich, dass männliche Pflanzen nicht unbedingt weibliche Pflanzen benötigen, um sich fortzupflanzen.

«Die Hanfpalme wird normalerweise als männlich oder weiblich dargestellt, aber wir haben herausgefunden, dass 15 bis 20% der Individuen ihr Geschlecht wechseln können», sagt Jousson.

«Am Anfang ihres Lebens sind sie männlich, am Ende haben sie die Fähigkeit, Früchte zu tragen. Dieses Phänomen war bereits von anderen Palmenfamilien bekannt, wurde aber bei der Hanfpalme noch nie untersucht.»

Yamama Naciri, Konservatorin des Botanischen Gartens von Genf, ergänzt: «Wir befinden uns wahrscheinlich in einer evolutionären Phase zwischen einem eher hermaphroditischen System, bei dem Männchen und Weibchen auf einer Pflanze vorkommen können, und einem System, bei dem die beiden Geschlechter getrennt sind. Das ist wichtig für das Phänomen der Invasion. Es bedeutet, dass die männlichen Pflanzen autonom sind und ganz allein neue Gebiete besiedeln können.»

Und das hat für den Neophyten spürbare Folgen: Die Hanfpalme wurde aus den Regalen der Gartencenter verbannt – zum Leidwesen all jener, die ihrem Garten einen Hauch Exotik verleihen wollten.

Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

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